Plötzlich begriff Danjin, was geschehen sein musste, und Gewissensbisse regten sich in ihm. Er spürte, wie sein Gesicht warm wurde.
»Ich, äh, nun…«
»Du hast ihn nicht zurückgegeben, nicht wahr?«
Er breitete die Hände aus. »Es hat niemand danach gefragt. Ich habe ihn beiseitegelegt und vergessen.«
»Hast du ihn dort hineingelegt?« Sie zeigte auf die Spielschachtel.
»Nein.« Er runzelte die Stirn. »Das muss jemand anders getan haben. Vielleicht jemand, der wollte, dass ich ihn finde.«
Sie besah sich den Ring noch einmal. »Jemand, der wollte, dass du in der Lage bist, dich mit Auraya in Verbindung zu setzen?«
»Ich kann den Ring wohl kaum zu einem anderen Zweck benutzen.«
Zu seiner Überraschung gab sie ihn ihm zurück. »Streif ihn über.«
»Jetzt?«
»Ja. Ich möchte feststellen, ob er funktioniert.«
Um mit Auraya zu sprechen… Eifer und Zweifel wetteiferten in ihm. Er blickte zu Ella auf.
»Was ist, wenn sie…?« Er unterbrach sich hastig und brachte es fertig, I-Portak nicht anzusehen.
»Du trägst auch meinen Ring«, bemerkte sie. »Ich müsste eigentlich alles hören, was sie dir sagt.«
Er holte tief Luft und schob den Ring auf einen Finger. Nichts geschah. Ella zog die Brauen zusammen.
»Ruf nach ihr«, schlug sie vor.
Er konzentrierte sich auf Auraya.
Auraya!
Stille folgte. Er rief wieder und wieder und fragte sich, ob sie ihn ignorierte, ob sie schlief oder - und bei diesem Gedanken erschrak er - ob sie tot war.
»Danjin.«
Er hob den Kopf. Ella sah ihn mit undeutbarer Miene an.
»Gib ihn mir.«
Er nahm den Ring ab und legte ihn auf ihre ausgestreckte Hand. Sie lächelte, dann verbarg sie den Ring unter ihrem Zirk.
»Den sollte ich fürs Erste besser behalten«, sagte sie.
»Denkst du…?«
Ich weiß nicht, was ich denken soll, antwortete sie. Ich werde keine Mutmaßungen anstellen, bevor Juran ihn überprüft hat.
Dann beugte sie sich vor und warf einen vielsagenden Blick auf das Spielbrett.
»Es ist schon eine Weile her, aber ich war einmal eine ziemlich gute Spielerin.«
Er brachte ein Lächeln zustande, dann griff er nach der Schachtel und begann, die Steine von neuem auf dem Brett anzuordnen.
43
Diamyane war noch immer so trocken und hässlich, wie Emerahl es von ihrem früheren Besuch auf dem Weg zu den Roten Höhlen in Erinnerung hatte. Seit sich die Nachricht von der heranrückenden zirklischen Armee herumgesprochen hatte, hatte sich Panik breitgemacht. Am vergangenen Tag hatten die Pentadrianer jedes Schiff in der Gegend beschlagnahmt, um zu verhindern, dass die Zirkler es benutzten. Jetzt flüchteten die Menschen aus der Stadt - meistens zu Fuß und mit ihrer Habe auf dem Rücken.
An ihrer Stelle war die Stadt nun von Traumwebern bevölkert. Heute kam es Emerahl so vor, als sei jeder dritte oder vierte Mensch, dem sie begegnete, ein Traumweber. Kein Wunder, dass man sie Boten des Krieges nannte, dachte Emerahl. Es hieß, wenn eine Schlacht bevorstehe, würden gewiss Traumweber und Aasvögel erscheinen. Erstere haben die Verwundeten geheilt, Letztere haben sich um die Toten gekümmert.
Bis zu dem letzten Kampf zwischen Zirklern und Pentadrianern hatte sie sich stets von Schlachtfeldern ferngehalten. Es war gefährlich, sich in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Nun verspürte sie ein seltsames Widerstreben, fortzugehen. War es Neugier, die sie verlockte zu bleiben?
Nein, befand sie. Es ist mehr als das. Es ist dieser nagende Gedanke, dass sich eine Gelegenheit für uns Unsterbliche bieten könnte, die Informationen in dem Diamanten zu benutzen. Wie unwahrscheinlich das auch sein mag, wenn wir nicht hier sind, um die Chance zu ergreifen, werden wir lange auf eine weitere Gelegenheit warten müssen.
Wo die Zirkler und die Pentadrianer aufeinandertrafen und die Weißen gegen die Stimmen kämpften, würden auch die Götter sein. Alle an einem Ort. Das geschah nicht oft. Tatsächlich würde es wahrscheinlich nur während eines Krieges geschehen.
Wir brauchen sechs Unsterbliche. Alles hängt von Auraya ab. Glaube ich wirklich, dass sie uns helfen würde, sie zu töten, wenn sie frei wäre?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, aber Mirar glaubt, dass wir hier sein sollten, falls er doch recht behält.
Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Die Möbel waren alt, und es gab nur wenige Annehmlichkeiten, aber der Raum bot einen Blick auf die Hauptstraße, die in die Stadt führte. Die Bewohner waren in aller Eile aufgebrochen und hatten den größten Teil ihrer Habe zurückgelassen. Sie hatte nur geringfügige Gewissensbisse, dass sie diese Dinge in Besitz genommen hatte, da sie bisher jede Nacht Plünderer davongejagt hatte. Da die Märkte geschlossen waren, hatte sie kaum eine andere Wahl, als sich an den mageren Essensvorräten zu bedienen. Ich sollte wohl Vorräte von den Traumwebern kaufen, aber sie werden alles brauchen, was sie haben, und was hier ist, wird verderben, wenn niemand es isst.
Sie sah aus dem Fenster und beobachtete zwei weitere Traumweber, die die Straße hinabgingen. Ihre Gedanken wanderten wieder zu der Frage zurück, wie sie die Götter töten könnten.
Sechs Angreifer, dachte sie. Einer von oben. Einer von unten. Einer auf jeder Seite. Wie sollen wir das anstellen?
Anders als die Götter waren Unsterbliche der Schwerkraft unterworfen. Sie konnten Positionen auf allen Seiten einnehmen, aber zu diesem Zweck müssten sich die Götter in der Nähe des Bodens befinden. Die Plätze oben und unten stellten dennoch ein Problem dar.
Außer für Auraya, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie kann fliegen. Der Platz oben ist offensichtlich ihrer, falls sie sich dazu entscheidet, ihn einzunehmen. Und was ist mit dem Platz unten?
Als nichtkörperliche Wesen konnten Götter durch feste Gegenstände hindurchgehen. Unsterbliche konnten das nicht. Wer immer den Platz unten einnahm, würde hoffen müssen, dass sich an der richtigen Stelle eine Höhle oder ein Tunnel fanden.
Und wo wird die richtige Stelle sein? Sie schürzte die Lippen. Die Weißen und die Stimmen werden einander vor der Schlacht wahrscheinlich gegenübertreten und die üblichen Drohungen und Prahlereien austauschen. Sie lächelte, als ihr klar wurde, wo diese Begegnung vermutlich stattfinden würde. Auf der Landenge.
Sie dachte an ihren letzten Besuch in Diamyane zurück und vergegenwärtigte sich den Tunnel, durch den sie in nördlicher Richtung mit der Familie gereist war, um den Weisen Mann von Karienne predigen zu hören. Der Tunnel war von Dieben kontrolliert worden, aber das ließ sich ändern.
Sie sind vielleicht zusammen mit den Einheimischen geflohen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie Häuser plündern; das dürfte zur Zeit das einträglichere Gewerbe sein. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie sich daran erinnerte, wie die Diebe vor ihrer Magie geflohen waren, als sie das Tor, an dem sie Reisende abfingen, eingeschmolzen hatte.
Das einzige Problem bei diesem Tunnel bestand darin, dass er quer unter der Landenge verlief und nicht längs. Und er lag in der Nähe der Küste von Diamyane. Also mussten sie und die anderen Sterblichen hoffen, dass die Begegnung direkt über dem Tunnel stattfinden würde, was unwahrscheinlich war.
Dann fiel ihr wieder ein, was der Vater der Familie ihr erzählt hatte. Er hatte gesagt, dass es in der Vergangenheit mehrere Tunnel unter der Landenge gegeben habe, dass sie jedoch aufgefüllt worden seien. Vielleicht ließen sich einige dieser Tunnel wieder öffnen.
Aber welche? Ah, das ist alles ein schöner Tagtraum, überlegte sie trocken. Und so wird es wahrscheinlich auch bleiben. Sie stand auf, ging zum Bett hinüber und legte sich nieder. Ich sollte besser herausfinden, was Mirar im Schilde führt.