Konnten andere Götter einen Gott zwingen, einen Leeren Raum zu betreten? Vielleicht. Aber Mirar hatte gesagt, Leere Räume würden geschaffen, wenn ein Gott getötet wurde. Das bedeutete, dass Leere Räume mit Vorsatz geschaffen wurden. Vielleicht um zu töten.
Also, wie schuf man einen Leeren Raum? Wie schuf ein Gott einen Mangel an Magie? Nun, das ist offenkundig. Man braucht nur alle Magie an einem bestimmten Ort in sich hineinzuziehen.
Sie blinzelte. War es wirklich so einfach? Sog ein Gott alle Magie von dem Ort ab, an dem ein anderer sich befand, um ihn oder sie zu töten? Was hinderte den anderen Gott daran, das Gleiche zu tun? Warum würden sie einander nicht einfach ausweichen?
Sie schüttelte sich. Bei all diesen Fragen drehte sich ihr der Kopf. Sie ließ ihre Gedanken für eine Weile schweifen, zu müde, um sich die Mühe zu machen, Geister abzuschöpfen. Ihre Sinne waren stumpf geworden, und sie hatte nicht die Energie, sich zu konzentrieren. Einige Zeit später hörte sie Schritte, war aber zu erschöpft, um die Augen zu öffnen und festzustellen, wer sich ihr näherte. Erst als Unfug von ihrem Hals herunterglitt und kalte Luft über ihre Haut strich, raffte sie sich auf.
»Auraya.«
Am Rand des Podests stand eine leuchtende Gestalt. Sheyr.
»Chaia?«, krächzte sie überrascht.
»Ja. Ich bin gekommen, um dir einen Fluchtweg anzubieten, Auraya.«
»Die anderen Götter haben endlich zugestimmt, ja?« Das Sprechen löste das Bedürfnis aus zu husten. Sie widerstand dem Drang. »Wie hast du Huan überzeugt?«
Er lächelte. »Gar nicht. Sie wissen nicht, was ich dir anbieten will, und sie würden es auch nicht gutheißen.«
Sie straffte sich, und Hoffnung keimte in ihr auf. Würde er den anderen um ihretwillen trotzen? Dann schüttelte sie ein Hustenkrampf. Als er sich gelegt hatte, war ihr schwindlig, und ihre Lunge brannte.
»Also, was ist das für ein Angebot?«, flüsterte sie.
»Ich kann dich nicht befreien«, erklärte er. »Das werden die anderen nicht zulassen. Aber sie haben nichts darüber gesagt, dass ich dich nicht unterrichten dürfe. Ich könnte dir etwas beibringen, das es dir ermöglichen würde, dich selbst zu befreien.«
Sie starrte ihn an. Er lächelte.
»Sprich weiter. Ich höre zu.«
»Mir ist seit einiger Zeit klar, dass deine Gaben die anderer Zauberer bei weitem übertreffen. Du bist unsterblich, aber du besitzt größere Macht als Unsterbliche. Du kannst Gedanken lesen. Du kannst die Gegenwart von Göttern spüren. Du kannst uns hören, wenn wir miteinander sprechen. Es würde nur einer geringen Anleitung durch mich bedürfen, damit du dich uns anschließen kannst.«
»Mich euch… anschließen?«
»Ja. Um selbst ein Gott zu werden.«
Er muss sich über mich lustig machen, dachte sie. Aber warum sollte er das tun? Es wäre ein jämmerlicher Scherz. Vielleicht ist er doch Sheyr. Er ist hier, um mich zu quälen.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie Mirars Stimme. »Alle Götter kamen als Sterbliche zur Welt, wurden Unsterbliche wie wir und verwandelten sich dann in Götter.«
Prickelnde Erregung durchströmte ihre Adern, schmerzhaft in ihrer Intensität. Ich könnte eine Göttin sein!
Aber Mirars Stimme in ihrer Erinnerung fuhr zu sprechen fort. »Die Götter empfinden weiter menschliche Gefühle, aber sie können die körperliche Welt weder wahrnehmen noch darauf einwirken, außer sie bedienen sich der Hilfe Sterblicher.«
Nun, die Sache musste einen Preis haben, dachte sie. Und es ist bestimmt besser, als tot zu sein.
»Die Götter nehmen die Seelen der Menschen nach ihrem Tod nicht auf.«
Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Bei der plötzlichen Bewegung wurde ihr schwindlig. Sie holte tief Luft, um das Gleichgewicht wiederzufinden, was ihr nur einen neuerlichen Hustenanfall eintrug. Als sie ihren Atem wiedergefunden hatte, blickte sie zu Chaia auf.
»Warum?«
Er lächelte.
»Ich möchte dich nicht verlieren, Auraya. Du bist krank. Dein Körper wird sterben, wenn du keine Chance bekommst, ihn zu heilen. Wenn du ein Gott wärst, würdest du nie wieder krank werden. Wir könnten immer zusammen sein.«
»Aber wenn ich sterbe, wären wir ohnehin zusammen. Du wirst meine Seele haben.«
Sein Lächeln verschwand. »Das wäre nicht dasselbe, Auraya. Die Toten können die Lebenden nicht berühren. Ich möchte, dass du an meiner Seite die Welt beherrschst.«
»Und an Huans Seite?«
»Nicht, wenn du es nicht wünschst.«
»Wenn wir Feinde wären, wäre das für die Sterblichen wohl kaum von Nutzen.«
»Du würdest auf die Ausschöpfung deiner vollen Fähigkeiten verzichten, nur aus Angst vor Huan?«
Sie wandte den Blick ab. »Nein.«
Er streckte die Hand aus. »Willst du dich mir anschließen, Auraya?«
Sie sackte in ihren Ketten zusammen. Ich weiß nicht, ob ich ein Gott werden will. Von der dinglichen Welt getrennt zu sein. Sie und andere Menschen nur durch deren Geist zu kennen… und die anderen Unsterblichen würden für mich unsichtbar sein. Würde Mirar mich als seine Feindin betrachten? Immer mehr Konsequenzen gingen ihr auf, zu viele, als dass sie in ihrem erschöpften Zustand darüber hätte nachdenken können.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich bin zu müde, um mich damit zu beschäftigen. Ich brauche Zeit.«
Chaia nickte. »Also gut. Ich werde dir erklären, was du tun musst. Du bist krank, und ich fürchte, wenn ich das nächste Mal zurückkehre, wird es zu spät sein.«
Auraya nickte. Sie schloss die Augen und konzentrierte all ihre Kraft darauf, Chaia zuzuhören, als dieser beschrieb, was sie tun musste, um ein Gott zu werden.
44
Mirar hatte den Weg zum unterirdischen Verlies aus den Erinnerungen und Gedanken der Götterdiener und Domestiken entnommen, die Auraya bewachten oder versorgten. Es gab drei Tore, die den Weg versperrten, ein jedes bewacht von zwei magisch starken Götterdienern.
Als er sich dem ersten Tor näherte, beobachteten ihn die beiden dort postierten Götterdiener mit wachsamen Blicken. Mirar lächelte ihnen zu.
»Dies ist also der Ort, an dem die berühmte Auraya festgehalten wird?«, fragte er beiläufig.
Die beiden Männer sahen einander an, dann wandte sich einer von ihnen Mirar zu und nickte.
»Darf ich hineingehen?«, fragte Mirar.
»Nur in Gesellschaft einer Stimme«, sagte der andere.
Mirar schaute durch das Tor und zuckte die Achseln. »Dann vielleicht ein andermal.« Er drehte sich um und kehrte den Flur hinauf zurück.
Nichts anderes hatte er erwartet. Die Stimmen mussten einen Grund haben, sie am Leben zu erhalten, daher würden sie nicht wollten, dass er sie tötete. Noch nicht.
Die Stimmen würden von seinem Besuch an den Toren erfahren. Auch das war beabsichtigt. Sie sollten wissen, dass er über Auraya nachdachte und dass sie in jedwedem Handel, den er mit ihnen schloss, vielleicht eine Rolle spielen würde.
Er bog um eine Ecke, blieb stehen und blinzelte überrascht. Nekaun kam auf ihn zugeschlendert.
Im Sanktuarium reisen Neuigkeiten eindeutig sehr schnell. Er muss verborgene Späher haben, die alle Flure zu dem unterirdischen Bereich beobachten.
»Erste Stimme Nekaun«, sagte Mirar. »Was für ein Zufall. Ich habe mich gerade gefragt, wen ich bitten sollte, mich zu Auraya zu bringen.«
Nekaun zog die Augenbrauen hoch. »Du möchtest mit ihr sprechen?«
Mirar verzog das Gesicht. »Nein. Ich möchte sie lediglich sehen. Unsere Gespräche waren unterhaltsam, als sie frei war, aber ich fürchte, dass es keinen Spaß machen würde, mit ihr im Geiste die Klingen zu kreuzen.«