Nekaun ging an ihm vorbei und drehte sich um. »Dann komm mit. Lass uns stattdessen ihren Anblick genießen.«
Die beiden Wachen wirkten nicht überrascht, als Nekaun und Mirar erschienen. Stattdessen hielten sie das Tor weit geöffnet. Die Mauern dahinter waren aus nacktem Stein. Alles war mit Staub bedeckt.
»Ich habe das Gefühl, dass dieser Teil des Sanktuariums lange nicht mehr benutzt worden ist.«
Nekaun lächelte. »Das ist wahr. Nicht dieser alte Schrein.«
»Ein Schrein?«
»Dieser Hügel war für tausende von Jahren ein geheiligter Ort. Das Sanktuarium wurde über den Ruinen eines alten Orts der Huldigung gebaut: des Schreins von Iedda.«
»Iedda? Einer der toten Götter?«, fragte Mirar überrascht. »Ich hätte gedacht, deine Götter hätten eher einen neueren Ort gewählt. Etwas, das nicht mit alten Göttern in Verbindung steht.«
»Warum? Die Untaten der alten Götter sind mit ihnen gestorben.«
Mirar blickte zur Decke empor und nickte. »Indem sie das Sanktuarium über dem Schrein errichtet haben, haben sie vermutlich die alten Sitten durch neue ersetzt. Wenn der Schrein noch existierte, und sei es auch nur als eine Ruine, würden die Erinnerungen länger erhalten bleiben.«
»Er existiert noch«, versicherte ihm Nekaun. »Komm mit.«
Sie gingen durch ein weiteres Tor. Der Flur führte weiter hinab und machte dann eine abrupte Biegung. Zwei Götterdiener standen vor dem dritten Tor. Dahinter befand sich eine große Halle. Das Erste, was Mirars Aufmerksamkeit erregte, war ein riesiger Thron.
Dann sah er die Gestalt, die an den Thron gekettet war. Nackt, schmutzverkrustet und magerer, als er sie in Erinnerung hatte, lehnte Auraya kraftlos am Sockel. Er konnte erkennen, dass ihre Stirn von Schweiß glänzte, und er konnte das schwache Geräusch gequälten Atmens hören.
Sie schien nicht wach zu sein.
»Was hält sie dort fest?«, zwang er sich zu fragen.
»Sie ist in einem Leeren Raum. Weißt du, was das ist?«
Mirar nickte. »Ich bin schon früher auf Leere Räume gestoßen.« Er konnte den Blick nicht von Auraya losreißen, obwohl er wusste, dass Nekaun ihn genau beobachtete.
»Du hast Mitleid mit ihr«, sagte der pentadrianische Anführer.
Mirar seufzte und nickte. »Ich bemitleide jeden, den die Götter - der Zirkel - benutzen und manipulieren. Ich kann mich der Frage nicht erwehren, was aus ihr hätte werden können, wäre sie nicht von ihren Priestern dazu erzogen worden zu hassen. Es ist eine meiner bedauerlichen Eigenschaften, meinen Feind zu bemitleiden.«
»Glaubst du, du könntest den Schaden wiedergutmachen?«
»Nein.« Mirar schüttelte den Kopf. »Sie würde mir niemals eine Chance geben. Bei der ersten Gelegenheit würde sie mich töten.«
Nekaun schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Diese Gelegenheit wird sie nicht bekommen. Aber wenn die Weißen den Sieg davontragen, wird es natürlich nicht Auraya sein, die du zu fürchten hättest.«
Mirar wandte sich zu Nekaun um. »Ich kann nicht für euch kämpfen«, erklärte er der Ersten Stimme unumwunden. »Ebenso wenig wie meine Anhänger das vermögen. Damit würden wir ein tausend Jahre altes Gesetz brechen.« Er senkte den Blick. »Aber ich kann meine Macht zur Verteidigung einsetzen. Ich kann dich, die anderen Stimmen und eure Armee schützen. Als Gegenleistung erbitte ich nur eine kleine Gefälligkeit.«
Nekauns Augen wurden schmal. »Und die wäre?«
Mirar wandte sich zu Auraya um. »Ich möchte derjenige sein, der Auraya mitteilt, dass die Weißen besiegt wurden.«
Nekauns Mundwinkel zuckten. »Ah.«
Als er nichts weiter sagte, wandte Mirar sich zu ihm um.
»Wirst du mein Angebot und die daran geknüpften Bedingungen annehmen?« Mirar hielt inne und runzelte die Stirn. »Ich vermute, du musst dich mit den anderen besprechen.«
Die Erste Stimme blickte zu Auraya hinüber, dann schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht nötig. Wir haben alle Alternativen und Möglichkeiten erörtert. Deine Bedingung ist akzeptabel.«
Er streckte die geöffnete Hand aus und spreizte die Finger ab. Mirar zögerte kurz, dann tat er das Gleiche. Nekaun ergriff seine Hand.
»Dann haben wir also einen Handel.«
Mirar nickte. »Einen Handel.«
Nekaun ließ Mirars Hand wieder los, drehte sich um und kehrte durch den Flur zurück. Mirar sah Auraya ein letztes Mal an, dann folgte er ihm.
»Ich sollte hinzufügen, dass deine Gefangene meiner sachkundigen Meinung nach an einem Fieber leidet«, sagte er leise. »Und das Geräusch, das sie beim Atmen macht, gefällt mir auch nicht allzu sehr. Mir wäre es lieber, wenn sie, wenn die Zeit kommt, am Leben wäre und gesund genug, um die Neuigkeit zu verstehen, dass ihre Welt ein Ende gefunden hat.«
Nekaun sah ihn an und nickte. »Es wäre eine Schande, wenn ihr das Ende der Geschichte entgehen würde. Ich werde einige meiner Heiler zu ihr schicken.«
Mirar nickte. »Wenn du den Rat eines Traumwebers brauchst, bin ich sicher, dass einer von ihnen bereit wäre zu helfen.«
»Danke. Ich werde es im Kopf behalten, für den Fall, dass Aurayas Heilung die Fähigkeiten meiner Götterdiener übersteigen sollte.«
Etwas an Chaias Angebot machte keinen Sinn, aber Auraya hatte nicht genug Kraft, um wirklich darüber nachzudenken.
So viel zu dem Thema, dass man sich Zeit lassen soll, um sich zu besinnen. Warum mache ich mir überhaupt die Mühe? Die Vorstellung, keinen Körper zu haben und die Welt nur durch Sterbliche wahrnehmen zu können, mag mir nicht gefallen, aber das muss immer noch besser sein, als tot zu sein.
Vor allem wenn Mirar recht hatte und die Götter gelogen hatten mit der Behauptung, die Seelen von Menschen nach ihrem Tod anzunehmen. Chaia hatte etwas darüber gesagt, dass die Seelen der Toten keine Verbindung mit der Welt der Lebenden hatten. Ein Gott hatte sie, war das also nicht die bessere Wahl?
Sie grübelte für eine Weile darüber nach, aber ihre Gedanken schweiften ab. Dann riss sie ein Kälteschock jäh aus ihrer Benommenheit. Wasser. Sie begann wieder zu zittern. Ein Domestik kam heran und hob eine Schale mit Brei an ihre Lippen. Sie nahm einen Schluck, dann begann sie zu husten und konnte nicht aufhören…
Etwas schlug ihr ins Gesicht. Sie begriff, dass sie ohnmächtig geworden war, und mühte sich nach Kräften aufzuwachen. Ich muss essen. Muss die Augen öffnen…
Das Gesicht vor ihr war unvertraut. Ein Mann. Er runzelte die Stirn. Es waren auch noch andere zugegen. Warum sind sie hier? Dann sah sie Nekaun am Rand des Podests stehen, und plötzlich war sie wachsamer als während der ganzen letzten Tage.
Aus den Gedanken der Götterdiener um sie herum las sie, dass man ihnen befohlen hatte, sie zu heilen. Sie las auch, wie sie ihren Zustand einschätzten: Ihre Lunge war verschleimt von einer Entzündung, ihr Körper litt an Wassermangel und war geschwächt durch ein Zuwenig an guter Nahrung. Außerdem las sie ihren Abscheu darüber, sie behandeln zu müssen. Sie hätten sie lieber sterben lassen.
Die Heilmittel, mit denen sie ihr Brust und Arme einrieben, rochen schmerzlich vertraut. Zumindest benutzten sie die richtigen Mittel. Sie förderten ein großes Hemd zutage. Einer der Götterdiener trat an Nekaun heran, der einen kleinen Gegenstand in die Hand des Mannes legte. Der Götterdiener kehrte zurück und trat vor Aurayas linken Arm. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie spürte, wie die Kette gelockert wurde - Nekaun hatte dem Mann den Schlüssel zu den Schlössern gegeben. Sie starrte ihn an und konnte nichts anderes mehr sehen. Dieser eine kleine Gegenstand raubte ihr die Freiheit. Ein so simples Ding. Jeder konnte es benutzen. Dazu bedurfte es keiner Magie …
Dann fiel ihr Arm herunter, und Schmerz zuckte durch ihre Schulter, und sie vergaß alles andere.
Die Götterdiener massierten ihren Arm und ihre Schulter, bis der Schmerz nachließ, dann streiften sie ihr das Hemd über den Kopf und schoben ihren Arm durch den Ärmel. Ihr Arm wurde ausgestreckt, um ihn wieder anzuketten, dann befreiten sie ihren rechten Arm und manövrierten sie in diese Seite des Hemdes. Der Stoff war rau und wärmte zwar nicht ihre Hände und Füße, aber sie konnte sich immerhin Erleichterung verschaffen, ohne ihre »Kleider« zu besudeln.