»Für mich klingt das ganz nach einer Affäre«, warf Genza ein.
»Das hört sich an wie die Art von Gerüchten, die in einer solchen Situation unweigerlich aufkommen, daher sollten wir nicht davon ausgehen, dass es wahr ist«, warnte Imenja. »Ist der Traumweber nach Si zurückgekehrt, nachdem Auraya die Weißen verlassen hatte?«
»Das wussten die beiden Akolythen nicht«, antwortete Heshema. »Sie waren schockiert über den Hass, mit dem einige Hanianer den Traumwebern begegnen. Möglich, dass sie deshalb beschlossen haben, die Rückkehr des Traumwebers in ihre Heimat geheim zu halten.
Die Abneigung und die Furcht der Hanianer gegenüber den Traumwebern schienen sich während meines Aufenthalts dort zu verschlimmern. Ihr Wahn war so stark geworden, dass das Gerücht aufkam, der Anführer der Traumweber, Mirar, sei gar nicht tot und sei zurückgekehrt, um Ärger zu machen.«
Shar lachte leise. »Wenn es doch nur so wäre. Dann könnten wir ihn für unsere Sache gewinnen.«
»Traumweber verabscheuen Gewalt«, rief Imenja ihm ins Gedächtnis. »Aber ich nehme an, dass ein Mann von seinen Befähigungen und seiner Erfahrung den Zirklern viel Ärger machen könnte - wenn er denn tatsächlich noch lebte.«
»Die gleichen Gerüchte machen auch hier die Runde«, sagte Nekaun. »Einige meiner Freunde haben nach der Quelle dieser Gerüchte gesucht, und es scheint, als stammten sie von den Traumwebern selbst und seien etwa zur gleichen Zeit überall in Avven, Dekkar und Mur aufgetaucht.«
»Interessant«, murmelte Vervel.
»Ja.«
»Dann sind die Weißen also nur zu viert, und möglicherweise ist einer ihrer früheren Feinde zurückgekehrt«, sagte Genza. »Können wir uns diese Situation zunutze machen?«
»Nein.« Nekauns Antwort war entschieden und seine Miene ernst. »Die Gerüchte, dass Mirar noch lebt, sind lediglich Gerüchte, und unsere Kundschafter in Jarime haben berichtet, dass gestern ein Ersatz für Auraya auserwählt wurde. Ihr Name ist Ellareen Spinner.«
Die anderen schwiegen einen Moment, während sie diese Information verarbeiteten, bis Vervel sich schließlich räusperte. Er sah zuerst Nekaun an, dann den Spion.
Nekaun nickte. »Danke, Heshema. Wir müssen diese Angelegenheit nun unter uns besprechen.«
Der Spion machte das Zeichen des Sterns und verließ den Balkon.
»Also«, sagte Vervel, nachdem die Schritte des Mannes verklungen waren, »wenn Auraya noch immer eine Verbündete der Weißen ist, ist der Vorteil jetzt auf ihrer Seite.«
»Ja.«
»Glaubst du, dass sie uns angreifen werden?«
»Wir können es nicht riskieren, davon auszugehen, dass sie es nicht tun werden«, antwortete Nekaun. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, das Gleichgewicht wieder zu unseren Gunsten zu beeinflussen.«
»Wenn Mirar doch nur wirklich zurückgekehrt wäre«, sagte Shar und seufzte.
»Selbst wenn es so wäre, wäre ein Zauberer, der nicht zu töten bereit ist, uns nicht von Nutzen«, erwiderte Imenja. »Nicht wenn Auraya dazu bereit ist, wie sie während der Schlacht so deutlich demonstriert hat.«
»Wir müssen einen anderen Weg finden«, sagte Nekaun - und vertrat damit ausnahmsweise die gleiche Meinung wie Imenja, stellte Reivan fest. »Ich möchte, dass ihr alle gründlich darüber nachdenkt. Meine Spione sammeln so viele Informationen über die neue Weiße wie nur möglich. Ich möchte wissen, welche Befähigungen Auraya zurückbehalten hat und wie groß ihre Macht jetzt ist.«
Die Stimmen und ihre Gefährten nickten. Nach einem wohlbemessenen Schweigen lächelte Nekaun und blickte ohne Vorwarnung zu Reivan hinüber. Ein Beben durchlief ihren Körper, und sie spürte, wie sie errötete.
»Jetzt zu anderen Dingen. Erzähl uns, Reivan, wie viele Plündererschiffe haben unsere Freunde, die Elai, in dieser Woche versenkt?«
4
Mirar blieb vor der Brücke stehen, blickte zu dem zweistöckigen Pfahlbau hinauf und lächelte. Er war seit einem Jahrhundert nicht mehr in einem Traumweberhaus gewesen… Wenn er dasjenige nicht mitzählte, das er in Somrey besucht hatte, als er Leiard gewesen war. Sie waren aus den Städten Nordithanias schon vor langer Zeit verschwunden, daher war es eine angenehme Überraschung gewesen festzustellen, dass es sie in Südithania noch gab.
Er überquerte die Brücke, ging zur Tür und klopfte.
Auf der anderen Seite wurden Schritte auf einem hölzernen Boden laut, dann wurde die Tür geöffnet, und eine nicht mehr ganz junge Frau in Traumweberroben erschien. Mirar zögerte, überzeugt davon, dass etwas fehlte, dann wurde ihm klar, dass er erwartet hatte, das Klappern eines Schlosses zu hören, das geöffnet wurde.
Die Traumweber in Südithania schließen nicht einmal ihre Türen ab!
»Sei mir gegrüßt. Ich bin Traumweberin Tintel«, sagte die Frau lächelnd und zog die Tür weiter auf. Was sie danach sagte, konnte er nicht verstehen, aber er spürte Freundlichkeit, und ihre Geste machte deutlich, dass sie ihn hereinbat.
»Danke. Ich bin Traumweber Wilar.« Er trat in einen kleinen Raum. An den Rändern standen, säuberlich zu Paaren angeordnet, Sandalen. Es war eine einheimische Sitte, die Schuhe auszuziehen, wenn man sich in einem Haus befand. Von irgendwo jenseits der Wände konnte er den Klang vieler Stimmen hören.
Er griff in seine Tasche und nahm den Beutel mit Münzen heraus, den Rikkens Diener Yuri ihm gegeben hatte. Als Mirar sich geweigert hatte, den üppigen Lohn für seine Dienste anzunehmen, hatte Yuri ihm geraten, das Geld stattdessen dem Traumweberhaus zu geben.
»Für das Haus«, erklärte Mirar in avvenscher Sprache, während er Tintel den Beutel überreichte. Er hoffte, dass sie ihn verstand.
Die Frau nahm den Beutel und blickte hinein. Dann zog sie die Augenbrauen hoch und sagte etwas, das er nicht verstand. Als er stirnrunzelnd den Kopf schüttelte, musterte sie ihn, und er sah Begreifen in ihren Augen aufscheinen.
»Du bist ein Fremdländer?«, fragte sie auf Avvensch.
»Ja. Aus dem Norden.«
»Wir haben nicht oft Besucher von dort.«
Das überrascht mich nicht, dachte er und beugte sich vor, um seine Schuhe auszuziehen. Als er fertig war, öffnete seine Gastgeberin eine weitere Tür, hinter der ein viel größerer Raum zum Vorschein kam. Lange Tische standen dort, und auf vielen der Stühle saßen Traumweber.
»Wir werden gleich zu Abend essen. Schließe dich uns an.«
Er folgte ihr in den Raum. Tintel begann mit lauter Stimme zu sprechen, und die Traumweber wandten sich ihr und Mirar zu. Er vermutete, dass sie ihn vorstellte, und machte das formelle Zeichen der Traumweber, indem er Herz, Mund und Stirn berührte. Alle Anwesenden lächelten, und einige begrüßten ihn, aber niemand erwiderte die Geste. Nachdem Tintel ihn zu einem Stuhl geführt hatte, wandten die Traumweber sich wieder ihrem Gespräch zu.
Die Atmosphäre war entspannt, und obwohl Mirar die anderen nicht verstehen konnte, fand er ihr Gelächter beruhigend. Diener brachten eine Mahlzeit, bestehend aus dünnem, geröstetem Brot, das auf Schalen mit einem würzigen Eintopf lag, und einem milchigen Getränk, das zu Mirars Erleichterung das Brennen der Gewürze linderte. Die meisten der Traumweber waren jung, wie ihm auffiel. Während ihre Mägen sich langsam füllten, wurde die Unterhaltung ruhiger und ernster. Als das Essen aufgetragen worden war, hatte Tintel sich zu ihnen gesellt, und jetzt sah sie Mirar an.
»Weißt du von den Problemen in Jarime, Wilar?«, fragte sie auf Avvensch.
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass sich viele Zirkler zusammengetan haben, um gegen das … das Hospital zu protestieren.« Er benutzte das hanianische Wort, da ihm der avvensche Begriff nicht einfiel.
Tintel verzog das Gesicht. »Es ist viel schlimmer. Viele Traumweber sind verprügelt worden. Getötet. Ein Traumweberhaus wurde niedergebrannt.«