Zuerst fand sie einige Fischer. Sie kehrten spät von ihrer morgendlichen Arbeit zurück. Als Nächstes begegnete sie der Mannschaft eines Handelsschiffs, das nach Süden fuhr, um Vorräte nach Diamyane zu bringen. Mehrere sennonische Kämpfer und ein zirklischer Priester waren an Bord, und dunwegische Kriegsschiffe segelten ganz in ihrer Nähe. Sie rechneten damit, dass die Pentadrianer versuchen würden zu verhindern, dass die Vorräte die zirklische Armee erreichten.
Sie bewegte sich ein klein wenig weiter, angezogen von dem Summen vieler Geister. Die zirklische Armee marschierte jetzt entlang der Küste. Die Soldaten und ihre Anführer wussten, dass sie nur noch eine Tagesreise von Diamyane entfernt waren. Die erfahreneren Priester, Priesterinnen und Veteranen sahen der Schlacht sowohl mit Grauen als auch mit Entschlossenheit entgegen.
Sie ließ ihren Geist weiter schweifen und gelangte an ihr Ziel. Diamyane war überlaufen von Aasgeiern, Traumwebern und sennonischen Truppen, die man vorausgeschickt hatte, um die Ankunft der Armee vorzubereiten. Sie suchte den Geist der Traumweber, dann forschte sie in ihren Gedanken nach Emerahl. Oder nach der Frau, für die Emerahl sich ausgab.
Da ist sie.
Tamun lächelte über die Gedanken in Bezug auf die rothaarige Fremde. Arleej, die offizielle Anführerin der Traumweber, war sich nicht sicher, was sie von Emmea halten sollte. Mirar hatte sie gebeten, Emmea in alle Gespräche und Pläne mit einzubeziehen. Die Frau war durchaus sympathisch. Wenn auch bisweilen ein wenig ungeduldig.
Arleej berichtete Emerahl, was geschehen war, als sie Juran von den Weißen von Mirars Entscheidung erzählt hatte, dass er und alle Traumweber ihre Gaben benutzen würden, um einer der beiden Parteien beizustehen.
»Er ist schneeweiß geworden«, bemerkte Arleej.
Emerahl kicherte. »Was hat er gesagt?«
»Er hat unser Angebot zu helfen, angenommen. Ich vermute, er hätte gern abgelehnt. Er muss Verrat argwöhnen, aber da die Zirkler ohnehin schwächer sind, nachdem Mirar sich auf die Seite des Feindes gestellt hat, muss Juran dieses Risiko eingehen.«
»Du fühlst dich doch nicht versucht, dich gegen die Zirkler zu wenden, oder?«
»Nein, natürlich nicht.« Arleej reagierte mit Erheiterung auf die Frage. »Außerdem hat Juran meinem Vorschlag zugestimmt, dass einige von uns den Weißen folgen, wenn sie zu der Begegnung mit den Stimmen die Landenge hinunterziehen. Das wäre in jedem Fall von Vorteil, da Mirar gewiss zusammen mit dem Feind erscheinen wird.«
»Ich würde gern ein Teil dieser Gruppe sein«, erklärte Emerahl. »Mirar hat mich zu dir geschickt, weil ich stark bin, und ich kann helfen, das Gleichgewicht der Macht, das durcheinanderzubringen er gezwungen war, wieder auszugleichen.«
Arleej dachte kurz nach, dann nickte sie. »Du bist uns herzlich willkommen.«
Das Gespräch wandte sich praktischen Belangen zu, und Tamun konnte keine Traumvernetzung mit Emerahl eingehen, bevor die Frau schlief, daher bewegte sie sich nach Süden, wo sie auf weitere menschliche Geister traf. Die pentadrianische Armee marschierte auf die Landenge zu. Sie war noch einen halben Tag von deren Anfang entfernt, hatte aber nicht die Absicht, sie zu überqueren. Sie brauchte länger, um Mirar zu finden, da in seiner Nähe nur ein einziger Geist unbeschirmt war. Der Name der Frau war Reivan, und sie war die Gefährtin der Zweiten Stimme, Imenja.
Reivan betrachtete Mirar mit wachsamen Respekt. Ihr gefielen seine Ideale und sein Widerwille gegen jedwede Gewalt, obwohl sie beides nicht für praktikabel hielt. Das Wissen, dass sie sich in der Gesellschaft eines Mannes befand, der mehr als tausend Jahre alt war, erfüllte sie mit großer Ehrfurcht. Den pentadrianischen Anführer betrachtete sie mit widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken: Da waren noch Reste von Verliebtheit, außerdem Sorge, Wut und ein langsam, aber stetig wachsender Hass.
Tamun? Surim?
Tamun erkannte die Gedankenstimme der Möwe. Sie zog sich widerstrebend von der Gefährtin zurück und konzentrierte sich auf den anderen Unsterblichen.
Sei mir gegrüßt, Möwe. Wo bist du?
Ich nähere mich dem Golf des Grams und werde heute Nacht die Landenge erreichen.
Weißt du von den Tunneln, die Emerahl beschrieben hat?
Ja. Ich habe sie früher oft benutzt, als sie noch offen waren.
Wir können nur hoffen, dass es unter dem Ort, an dem die Weißen und die Stimmen aufeinandertreffen, ebenfalls einen Tunnel gibt.
Mir ist eine Lösung für dieses Problem eingefallen. Wenn ich einen kleinen Teil der Landenge zum Einsturz brächte, müssten die Stimmen und die Weißen auf gegenüberliegenden Seiten stehen, um einander anzusehen.
Ah. Zweifel befielen sie, als sie über diesen Vorschlag nachsann. Sie werden sich fragen, wer den Einsturz verursacht hat und warum. Das würde vielleicht den Argwohn der Götter erregen.
Vielleicht, räumte er ein. Ich könnte es so einrichten, dass es wie ein natürliches Ereignis aussieht.
Aber es würde trotzdem als ein zu großer Zufall erscheinen.
Dann fällt mir nur eine einzige andere Lösung ein.
Welche?
Ich werde in der Mitte der Landenge, unter der Straße, einen Tunnel ausheben müssen.
Das wird einige Zeit dauern.
Etwa einen Tag. Ich werde in der Mitte beginnen, wo sich die Weißen und die Stimmen höchstwahrscheinlich treffen werden. Die Sache hat nur einen Nachteil.
Und der wäre?
Es könnte dazu führen, dass die Landenge trotzdem einstürzt. Hoffentlich geschieht das erst in einigen Jahren und nicht, während ich mich darin aufhalte.
Dann solltest du vorsichtig sein, Möwe. Falls die Landenge doch einstürzt, werden wir dich finden. Wenn nötig, werden wir dich ausgraben.
Dann sollte ich besser Mirar um einige Lektionen darüber bitten, wie man sein Begräbnis überlebt, erwiderte er trocken. Ich muss Schluss machen. Der Roale wird vergessen, dass er mich auf dem Rücken trägt, wenn ich ihn nicht von Zeit zu Zeit daran erinnere. Falls er beschließt abzutauchen, werde ich mein Ziel bis heute Abend nicht mehr erreichen.
Als sein Geist verblasste, holte Tamun einige Male tief Luft. Was sie taten, war in mehr als einer Hinsicht gefährlich. Es würde vielleicht nicht einmal funktionieren. Aber wenn es die Befreiung von den Göttern bedeutete, würde sie es wieder und wieder versuchen.
Einige Risiken lohnten, dass man sie einging.
47
Die Sonne war vor kurzer Zeit hinter dem Horizont verschwunden; sie war mit stetiger Zielstrebigkeit gesunken, als durchliefe sie geduldig die notwendigen Schritte, wohlwissend, dass die morgige Schlacht gewiss kommen würde. Ein Leuchten erfüllte den westlichen Himmel, der an manchen Stellen eine eigenartige Farbe angenommen hatte. Als Reivan darauf zuging, fragte sie sich, ob irgendein Denker wusste, warum der Himmel zu diesen Zeiten so unmögliche Farben wie Grün und Purpur annahm.
Dann erreichte sie Imenja und blieb stehen. Die Zweite Stimme starrte auf die Landenge, die in das unheimliche Licht des glühenden Himmels getaucht war. Das Land streckte sich in der Dunkelheit einem kaum sichtbaren Schatten entgegen.
Sennon. Nordithania.
»Sie sind noch nicht da«, sagte Imenja.
»Werden wir übersetzen und Diamyane einnehmen?«, fragte Reivan. Sie hatten diese Möglichkeit bei verschiedenen Gesprächen erörtert.
»Nein. Wenn wir hierbleiben, sind wir im Vorteil. Die Zirkler können nur in geringer Stärke vordringen, daher können wir uns mühelos einen nach dem anderen vornehmen.«