»Und wenn die Weißen vor der Armee herziehen?«
»Dann werden wir Stimmen gegen sie kämpfen.«
»Und die Soldaten überflüssig machen«, bemerkte Reivan.
Imenja lächelte schief. »Ja. Was gar nicht so schlecht wäre. Der Krieg ist nicht freundlich zu Sterblichen, die keine Befähigungen besitzen.«
Reivan schauderte. Diese Beschreibung traf auch auf sie zu. Imenja wandte sich um und legte Reivan eine Hand auf die Schulter.
»Keine Sorge. Du wirst geschützt sein.«
»Ich weiß.« Reivan seufzte. »Aber ich werde auch nutzlos sein.«
Das Licht war fahler geworden, und Imenjas Gesicht lag im Schatten. Reivan konnte ihren Ausdruck nicht erkennen.
»Nicht für mich«, sagte Imenja und drückte Reivans Schulter. Dann blickte sie hinter sich. »Das Zelt ist aufgebaut. Wir sollten uns zu den anderen gesellen.«
Sie gingen zurück ins Lager. Was zuvor eine trockene, staubige Ebene gewesen war, war jetzt bedeckt mit schwarzen, spitz zulaufenden Formen, zwischen denen wie orangefarbene Sterne Feuer flackerten. Als Reivan das erste Mal beobachtet hatte, wie die Zelte aufgebaut wurden, war sie entsetzt gewesen. Der fünfkantige Zuschnitt war eine unnötige Komplikation, mit der einige der Domestiken nur mit Mühe zurechtkamen, und der schwarze Stoff zog die Hitze der Sonne gnadenlos auf sich. Manchmal fragte sie sich, ob die Pentadrianer ihren Symbolismus nicht zu weit trieben.
Wenn die Sonne aufging, würden die Krieger nicht in ihren überhitzten Zelten hocken. Sie würden Blut vergießen. Oder mitansehen, wie Zauberer tödliche Magie freisetzten, und hoffen, dass sie nicht zufällig am falschen Ort waren, wenn ein solcher Angriff in die Irre ging. Sie dachte darüber nach, was Imenja gesagt hatte. Ein Kampf einzig zwischen den Stimmen und den Weißen klang zu gut, um wahr zu sein. Aber die Götterdiener und die Priester würden sich nicht aus der Schlacht heraushalten. Sie würden ihre Seite mit zusätzlicher Magie stärken. Sobald die Stimmen die Weißen besiegten oder, die Götter mochten ihnen beistehen, die Weißen den Stimmen eine Niederlage beibrachten, würde es keinen Sinn mehr haben, wenn die Götterdiener oder die Priester den Kampf fortsetzten. Aber sie würden es vielleicht dennoch tun. Einfach aus Ergebenheit ihren Göttern gegenüber.
Und was dann?, fragte sich Reivan. Was wird mit den Armeen geschehen, wenn eine Seite besiegt ist?
Sie bezweifelte, dass die Stimmen die Zirkler einfach nach Hause ziehen lassen würden, wie die Weißen es den Pentadrianern nach der letzten Schlacht gestattet hatten. Außerdem wusste sie, dass dies ein Kampf sein würde, in dem weder die Stimmen noch die Weißen die jeweils anderen würden am Leben lassen können.
Imenja hielt inne und seufzte. Als Reivan aufblickte, sah sie, dass sie sich einem großen Zelt näherten. Es war nicht schlicht und fünfseitig wie die übrigen, sondern sternenförmig angelegt. Der Eingang zum Zelt war eine Lücke zwischen zwei Zacken des Sterns. Als sie Imenja hineinfolgte, fand sie sich in einem fünfseitigen Raum wieder. In jede Wand war eine Türlasche eingelassen. Wahrscheinlich führten diese Ausgänge zu den privaten Räumen der Stimmen.
Ein großer Teppich bedeckte den Boden, und mehrere Stühle aus geflochtenem Ried standen bereit. Auf kleinen, niedrigen Tischen warteten Schalen mit Nüssen und getrockneten Früchten und Wasserkrüge. Als Imenja sich einem Götterdiener zuwandte, zeichnete dieser das Symbol des Sterns nach. Dann senkte er den Blick und deutete auf eine Türlasche.
Imenja schob die Lasche beiseite, dann hielt sie sie für Reivan auf, nachdem sie hindurchgetreten war. Auch dieser Raum war mit Teppichen bedeckt, und neben einem großen Bett standen Truhen.
»Wo soll ich schlafen?«, fragte Reivan.
»Es sollte in der Nähe ein Zelt für dich bereitstehen.«
Reivan nickte.
»Ist dein Quartier zu deiner Zufriedenheit?«
Sie drehten sich um und sahen Nekaun lächelnd in der Tür stehen. Bei seinem Anblick bekam Reivan eine Gänsehaut.
»Ich bemerke kaum, dass ich das Sanktuarium verlassen habe«, erwiderte Imenja trocken.
Nekauns Lächeln wurde breiter. »Das wird sich morgen ändern.« Er blickte über seine Schulter. »Das Essen ist da. Kommt und esst.«
Er zog sich von der Tür zurück. Reivan drehte sich wieder zu Imenja um und stellte fest, dass die andere Frau lächelte.
»Schön zu sehen, dass er keine Macht mehr über dich hat«, murmelte sie. »Obwohl ich wünschte, du hättest diesen Zustand auf einem weniger schmerzlichen Weg erreicht.«
Reivan blinzelte überrascht, dann nickte sie, als ihr aufging, dass Imenja recht hatte. Wenn sie Nekaun jetzt sah, verspürte sie nicht länger dieses Prickeln der Erregung und Bewunderung, ebenso wenig wie die Schwäche, die sie früher in Nekauns Gegenwart befallen hatte. Sie ersehnte seine Aufmerksamkeit also nicht länger. Nicht mehr seit…
Sie schauderte, als sie sich an das letzte Mal erinnerte. Er hatte eine grausame, boshafte Seite an sich offenbart, die sie nie wieder vergessen würde, ein Umstand, über den sie einerseits froh war, der ihr andererseits aber auch ein wenig Sorgen machte. Wenn sie ihn jetzt sah, fühlte sie sich abgestoßen.
Imenja klopfte Reivan im Vorbeigehen auf die Schulter.
»Lass uns essen gehen.«
Reivan folgte ihrer Herrin und sah, dass die anderen Stimmen und ihre Gefährten bereits eingetroffen waren. Domestiken trugen Platten mit dampfenden Speisen in den Raum und füllten die Luft mit köstlichen Gerüchen. Sie setzte sich neben Imenja und begann zu essen. Die Ergebenen Götterdiener und selbst ein paar Denker kamen herein. Nekaun hielt eine kleine Ansprache; er berichtete, dass, während sie sich an einem Festmahl gütlich taten, die Zirkler erschöpft ihre letzte Marschetappe in Angriff nahmen, nur um morgen besiegt zu werden.
Die Gespräche drehten sich um den Krieg. Ein Ergebener Götterdiener meldete, dass mehrere zirklische Vorratsschiffe versenkt worden seien. Während des allgemeinen Geplappers bekam Reivan ein Gespräch der Denker mit, in dem es um ein riesiges Meeresgeschöpf ging, das man im Golf des Grams hatte schwimmen sehen. Sie wollten das Tier töten und untersuchen.
»Wenn ihr das tut, werden wir unsere Unterstützung in diesem Krieg aufkündigen«, dröhnte eine laute, tiefe Stimme mit starkem Akzent.
Alle drehten sich zum Eingang um. Reivans Herz tat einen Satz, als sie den Mann erkannte. Als sie sich umschaute, konnte sie sehen, welche Wirkung der imposante König der Elai auf jene unter den Anwesenden hatte, die noch nie zuvor einem Elai begegnet waren.
Selbst wenn König Ais ein Landgeher gewesen wäre, hätten sein hoher Wuchs, die Breite seiner Brust und der Goldschmuck, den er trug, ihn zu einer einschüchternden Gestalt gemacht. Seine blauschwarze Haut, das Fehlen jedweder Körperbehaarung, die mit doppelten Lidern versehenen Augen und die Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen verstärkten nur die Fremdartigkeit, die einige Menschen vielleicht faszinierend und andere abstoßend fanden. Der König trat in den Raum und blickte mit schmalen Augen zu den Denkern hinüber.
»Der Ru-al ist ein uraltes, gütiges Geschöpf des Meeres, und obwohl wir von einem Tier genug Nahrung gewinnen würden, um viele, viele Familien zu versorgen, machen wir Elai keine Jagd auf sie. Einen Ru-al aus reiner Neugier zu töten wäre…« Der König der Elai schüttelte den Kopf. »Es wäre ebenso verschwenderisch wie grausam.«
»Niemand wird das Geschöpf töten«, versicherte Nekaun und trat auf den König zu. »Willkommen in Avven und im pentadrianischen Kriegslager, König Ais. Ich hoffe, deine Reise war nicht allzu schwierig.«
Während die beiden Anführer weitere steife Höflichkeiten austauschten, wandte Reivan sich wieder ab. Die Menschen starrten den König der Elai voller Faszination an. Nekaun musterte die Anwesenden stirnrunzelnd, und jene, die den Neuankömmling angestarrt hatten, wandten sich hastig ab und verwickelten ihre Nachbarn in ein Gespräch.