Ein ohrenbetäubendes Dröhnen folgte, und der Boden zitterte. Dort, wo ihre Magie eingeschlagen war, wurden Risse sichtbar. Trümmer regneten in die Halle hinab. Der Angriff der Götterdiener stockte. Als Auraya hinter sich blickte, sah sie, dass die Männer entsetzt zurückwichen.
Sie brauchte noch drei weitere Stöße, ein jeder mächtiger als der vorangegangene, um durchzubrechen. Risse durchzogen die Decke der Halle, und schwaches Sonnenlicht sickerte hindurch und schuf Vorhänge aus Licht in dem Staub, der die Trümmer auf dem Boden einhüllte.
Die Götterdiener waren geflohen.
Auraya hielt inne, um den zitternden Unfug zu streicheln, der sich jetzt hinten an ihrem Hemd festklammerte. Dann richtete sie sich auf, sog gierig Magie in sich hinein und ließ sie frei. Mit einem schrecklichen Krachen stürzte ein großes Stück der Decke in die Halle und begrub den Thron unter sich. Trümmer flogen an Auraya vorbei und prasselten auf ihre Barriere. Sie wartete nicht darauf, dass der Staub sich legte, sondern stieg über die Steinbrocken hinweg, wobei sie darauf achtete, keinen der beiden Leeren Räume zu betreten.
Über ihr erschienen weiße Wände, ein Teil des Sanktuariums. Beim Anblick des Himmels darüber sang ihr Herz. Der Himmel war rosafarben. Morgendämmerung.
»Owaya fliegen«, sagte Unfug ihr ins Ohr.
»Ja«, erwiderte sie. »Halt dich gut fest.«
Sie spürte, wie der Veez sich an sie klammerte, dann stieg sie aus dem Loch auf und in den Himmel empor.
Die Sonne geht auf, sagte Tamun. Schon bald werden die Armeen erwachen. Heute wird sich die Welt abermals verändern, ganz gleich, ob wir Erfolg haben oder nicht.
Emerahl verbarg ihre Erheiterung. Manchmal redeten die Zwillinge wie Geschichtenerzähler, mit dramatischem Tonfall und nicht minder dramatischen Worten. Sie waren in älteren Zeiten aufgewachsen, und vielleicht war das der Grund, warum sie sprachen wie Figuren in einem historischen Schauspiel.
Nein, ich glaube nicht, dass die Menschen in ferner Vergangenheit so geredet haben, wenn sie die Wäsche wuschen oder eine Mahlzeit zubereiteten, überlegte sie. Dies ist lediglich die Art der Zwillinge, uns daran zu erinnern, dass unser Plan ebenso riskant ist wie die Taten der Helden aus alter Zeit und dass unser Vorhaben die Welt dramatisch verändern wird.
Dann erklang eine neue Stimme in ihrer Vernetzung.
Ich bin fertig, eröffnete die Möwe ihnen. Ich habe einen Tunnel unter der gesamten Landenge geschaffen und mit dem verbunden, den Emerahl benutzt hat. Außerdem habe ich Tunnel gegraben, die von dem Längstunnel in der Mitte zu beiden Seiten abzweigen und ins Meer führen, so dass Tamun und Surim ein Versteck für sich selbst und ihre Boote haben werden.
Dazu musst du die ganze Nacht gebraucht haben, sagte Emerahl beeindruckt. Wenn wir heute unsere Chance nicht bekommen, wird dieser Ort wie geschaffen dafür sein, die Götter zu einem späteren Zeitpunkt dorthin zu locken.
Nur wenn wir bald einen sechsten Unsterblichen finden, sagte die Möwe warnend. Nach allem, was ich getan habe, wird die Landenge nicht mehr lange existieren.
Falls sich keine Gelegenheit bieten sollte - und es sieht nicht danach aus -, müssen wir weiter Ausschau nach neuen Unsterblichen halten, bemerkte Emerahl. Da die Zirkler und die Pentadrianer mächtige Zauberer schon in jungen Jahren auswählen, müssen wir damit rechnen, in ihren Reihen geeignete Kandidaten zu finden. Es wird allerdings schwer werden, jemanden für unsere Sache zu gewinnen.
Und sobald es uns gelungen ist, werden wir nach einer Möglichkeit suchen, alle Götter gleichzeitig an einen Ort zu holen, wo wir sie umringen können, fügte Surim hinzu.
Surim? Tamun? Jetzt hatte sich auch Mirar zu ihnen gesellt.
Mirar, antworteten sie.
Die Pentadrianer rüsten sich für die Schlacht. Dies wird meine letzte Gelegenheit sein, mich mit euch zu vernetzen. Seid ihr alle bereit?
Noch nicht ganz, antwortete Surim. Wir sind in Diamyane eingetroffen. Die Möwe hat die Tunnel angelegt, daher sollten er, Surim und ich in Bälde unsere Positionen eingenommen haben. Emerahl muss auf die Weißen warten. Wie geht es Auraya?
Ich weiß es nicht. Sie hat nicht geschlafen, als ich mich mit ihr in Verbindung setzen wollte. Ich habe es mit Gedankenabschöpfen versucht, aber es ist niemand dort. Nicht einmal Wachen.
Ich werde es ebenfalls versuchen, erbot sich Surim.
Sie warteten schweigend. Emerahl fragte sich, ob die anderen die gleiche Furcht verspürten. Die Stimmen hatten möglicherweise den Befehl hinterlassen, Auraya zu töten, weil sie dachten, dass Mirar erst nach der Schlacht von dem Verrat erfahren würde. Das würde den Mangel an Wachen erklären. Es hatte keinen Sinn, eine tote Gefangene zu bewachen.
Sie war der einzige Schwachpunkt in unserem Plan, sagte Surim leise. Wir haben eine perfekte Falle aufgebaut; wir wissen, dass wir Leere Räume schaffen können, da es Tamun gestern gelungen ist. Jetzt hätten wir nur noch Auraya gebraucht.
Wir mussten trotzdem hier sein, nur für den Fall des Falles, wiederholte Emerahl dieselben Worte zum tausendsten Mal. Ihr wurde flau vor Enttäuschung. Wenn wir die Geheimnisse der Götter früher entdeckt hätten, hätten wir alle nach einer Möglichkeit suchen können, sie zu befreien.
AURAYA IST FREI!
Surims Stimme war so laut in Emerahls Geist, dass sie um ein Haar aus der Traumvernetzung herausgerissen worden wäre.
Sie lebt? Sie ist frei? Wie? Wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?, fragte Mirar hektisch.
Ah! Ich sehe sie. Sie beraubt gerade einen Kaufmann, bemerkte Tamun trocken. Sie stiehlt etwas zu essen. Etwas Tuch. Ah, sie hat dem Mann versprochen, zurückzukehren und ihn zu bezahlen, wenn sie kann. Er glaubt ihr natürlich nicht, und ich…
Das ist ein schönes Stück Tuch, fügte Surim hinzu. Wer hätte gedacht, dass sie einen so guten Geschmack hat. Ich schätze, dass ihr diese törichten weißen Roben schon lange gegen…
Sie hat nicht viel Auswahl, rief Tamun ihm ins Gedächtnis. Sie kann unmöglich mit diesem schmutzigen Lumpen am Leib…
WO IST SIE?, fragte Mirar.
Die Zwillinge hielten inne.
In der Nähe der Berge.
Das ging aber schnell, warf die Möwe ein. Die Berge sind mehrere Tagesritte von Glymma entfernt.
Sie reist sehr schnell, wenn sie will, sagte Mirar stolz.
Das ist gut, denn wenn sie herkommen und uns helfen will, ist Eile geboten, sagte Surim.
Warum ist sie in die Berge gegangen?, fragte Emerahl. Die Schlacht findet in der entgegengesetzten Richtung statt.
Sie möchte sich so weit wie möglich von den Stimmen und den Göttern entfernen, mutmaßte Mirar.
Und sie hat sich nicht zu den Weißen gesellt, sagte Tamun. Du hast ihr erzählt, dass du die Stimmen verteidigen würdest. Sie weiß, dass den Weißen eine sichere Niederlage bevorsteht. Hat sie sich von ihnen abgewandt, oder wartet sie nur auf den richtigen Zeitpunkt?
Darauf habe ich keine Antwort. Aber du kannst dir sicher sein, dass sie eine Möglichkeit zu handeln hat, von der sie gar nichts weiß, weil du mir nicht erlauben wolltest, ihr unsere Pläne mit den Göttern zu eröffnen.