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Mirar war an den Rand der Straße getreten, als wolle er sich ins Meer stürzen, aber dann hatte er innegehalten und gelauscht. Reivan konnte das Gespräch nicht hören. In ihrer Neugier hatte sie sich nach vorn geschoben, aber bevor sie nahe genug herangekommen war, hatte Auraya einen Schrei ausgestoßen, und ein zweiter Lichtblitz durchzuckte die Luft.

Benommen wie sie war, brauchte Reivan eine Weile, bevor sie wieder sehen konnte. Die Weißen und die Stimmen blickten alle zu Auraya hinüber. Die Götter waren verschwunden.

»Sie sind fort!«, rief Auraya. »Chaia hat die anderen Götter und sich selbst getötet!«

Obwohl Reivan nicht hören konnte, was gesprochen wurde, war offenkundig, dass die Weißen und die Stimmen gegen ihre Worte protestierten. Aurayas Gesichtsausdruck war schrecklich. Entsetzen und Trauer verzerrten ihre Züge. Sie presste die Hände an die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf und ging davon.

Als sie sich abwandte, starrte der Anführer der Zirkler ihr nach. Plötzlich begann Mirar zu sprechen, und Reivan zuckte zusammen.

»Lasst sie gehen«, sagte er und trat neben Auraya, um ihr eine Hand auf die Schulter zu legen. Sie lehnte sich an ihn.

Eine rührende Szene, dachte Reivan mit einem schiefen Lächeln. Die Götter hatten recht, was die beiden betrifft. Wer hätte das für möglich gehalten?

Mirar zog Auraya an den Straßenrand, und Reivan sah eine Frau in einem kleinen Boot herbeirudern. Auraya hielt inne, dann ließ sie sich von Mirar das Ufer hinab und in das Boot helfen.

»Was jetzt?«, fragte einer der Weißen.

»Wir gehen nach Hause«, sagte ihr Anführer.

Als sie sich abwandten, erklang lautes Gelächter. Ein Frösteln überlief Reivan, als ihr klar wurde, dass Nekaun wieder bei Bewusstsein war und sich erhoben hatte.

»Oh, was für ein wunderbarer Trick! Ihr wusstet, dass ihr verlieren würdet, daher haben eure Götter ihren Tod vorgetäuscht, damit ihr nach Hause zurücklaufen könnt, ohne dass euer Stolz dabei Schaden nimmt. Und ihr behauptet, eure Götter und unsere seien dieselben, so dass wir euch nicht verfolgen werden. Ah! Jetzt durchschaue ich euren Plan. Ihr glaubt, ihr könnt uns hinüberlocken und…«

»Halt den Mund, Nekaun«, sagte Imenja.

Nekaun starrte sie mit zornumwölkter Miene an. »Die Götter werden deinen Verrat nicht ungesühnt lassen«, begann er.

Imenja verdrehte die Augen und wandte ihm den Rücken zu. Sie und die anderen Stimmen zogen sich von den Weißen zurück, gingen an Nekaun vorbei und kamen auf Reivan und ihre Gefährten zu.

»Kommt sofort zurück!« Niemand drehte sich auch nur um, um ihn anzusehen. »Ich befehle es euch.«

Die Stimmen ignorierten ihn. Reivan zuckte zusammen, als er die Hand hob, um sie mit Magie anzugreifen, aber nichts geschah. Er starrte seine Finger an, runzelte die Stirn und sah sich verwirrt um.

Imenja blickte lächelnd zu Reivan hinüber. »Er war schon immer ein wenig langsam.«

»Was ist passiert?«

»Das lässt sich nicht so leicht erklären.« Imenja betrachtete die anderen Stimmen, als sie zwischen den Götterdienern, den Ratgebern und dem König der Elai stehen blieb. »Nach dem ersten Lichtblitz habe ich eine Veränderung gespürt. Ein Nachlassen der Magie.« Sie sah ihren Anhänger an und runzelte die Stirn.

»Das… das ergibt keinen Sinn«, sagte Reivan.

»Nein, das tut es nicht.« Imenja seufzte. »Auraya behauptet, die Götter seien tot. Alle Götter. Ich glaube, sie hat recht.«

Reivan musterte sie entgeistert.

»Aber diese leuchtenden Gestalten? Wer waren sie?«, fragte ein Ratgeber.

»Sie waren die Götter. Ihre Götter. Unsere Götter. Ein und dieselben, wie sich herausgestellt hat. Sie sind von irgendetwas, das Auraya und Mirar getan haben, gefangen genommen worden. Aber es hat sie nicht getötet. Das haben die Götter selbst getan. Sie haben irgendetwas getan, und… das hat ihnen den Rest gegeben. Zumindest ist es das, was Auraya vermutet.«

»Und du glaubst ihr?«, fragte der König der Elai.

»Ja.«

Während sie sich auf den Weg zurück nach Avven machten, dämmerten Reivan langsam die Konsequenzen des Geschehenen.

»Du hast deine Befähigungen nicht verloren?«, fragte ein Götterdiener.

»Wahrscheinlich habe ich noch die Befähigungen, über die ich bereits verfügte, bevor ich eine Stimme wurde. Das bedeutet, dass ich meine Unsterblichkeit verloren habe. Wahrscheinlich bin ich nicht mächtiger als unsere stärksten Ergebenen Götterdiener. Nur dass ich… immer noch Gedanken lesen kann.«

Sie hatte ihre Unsterblichkeit verloren? Reivans Kehle schnürte sich vor Mitgefühl zusammen.

»Wenn du und die anderen Stimmen nicht mehr so mächtig seid wie früher, werdet ihr dann überhaupt weiter herrschen?«, fragte der König der Elai.

»Werden wir ohne die Götter anfangen, gegeneinander zu kämpfen? Wird die Welt in Chaos versinken?«, fügte ein Götterdiener hinzu, in dessen Stimme ein Anflug von Hysterie durchklang.

Reivan konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Wir haben doch auch vorher schon gegeneinander gekämpft.«

Imenja lachte leise. »Ja, das ist wahr. Aber werden wir jetzt noch einen Grund dazu haben? Was denkst du, Gefährtin Reivan? Sollen wir uns bemühen, weiterhin über unser Volk zu herrschen, oder sollen wir uns irgendwo auf einem Berg eine stille, kleine Hütte suchen und auf das Ende der Welt warten?«

Reivan sah Imenja an und bemerkte den fragenden Ausdruck in den Augen der Frau. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass dies nicht nur ihre Herrin war, die sie um Rat fragte, sondern eine Freundin, die Trost brauchte.

»Ich denke, die Dinge in Südithania werden sich zum Besten fügen, solange du seine Herrscherin bist.«

Imenja lächelte. »Ich hoffe, der Rest des Südens stimmt dir zu, Reivan.«

Reivan nahm eine Bewegung hinter Imenjas Schulter wahr; Nekaun kam auf sie zu, das Gesicht starr vor Zorn.

»Aber ich denke, dir steht zunächst ein Kampf bevor«, murmelte sie.

Imenja lachte. »Oh, ich glaube nicht, dass Nekaun ein Problem darstellen wird. Er hat in der kurzen Zeit seit seiner Wahl eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen vor den Kopf gestoßen.« Sie straffte sich. »Und ich werde es ihm auf keinen Fall durchgehen lassen, dass er dich und die anderen Frauen, die er in jener Nacht verletzt hat, so schlecht behandelt hat.« Sie sah die übrigen Stimmen an. »Was meint ihr dazu?«

Reivan war gleichzeitig überrascht und entsetzt zu erfahren, dass sie nicht die einzige Götterdienerin war, die erlebt hatte, was Nekaun unter »erregender« Liebe verstand.

»Ich finde, wir sollten das strengste unserer Gesetze anwenden«, sagte Genza. Vervel und Shar nickten.

Imenja fuhr zu Nekaun herum.

»Nekaun, ehemals Erste Stimme der Götter, hiermit klage ich dich der Vergewaltigung einer Götterdienerin an, ein Vergehen, dessen du dich, wie ich weiß, dreimal schuldig gemacht hast. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Nekaun war mit ungläubiger Miene stehen geblieben. Reivan schaute in die Gesichter der vier anderen Stimmen, und ihr Herz hämmerte vor Furcht, während gleichzeitig eine düstere Hoffnung in ihr aufstieg. Gewiss würden sie nicht… Aber jetzt, da sie Nekaun nicht mehr als ihren Herrscher dulden mussten, würden sie ihm sicher die Stirn bieten.

Nekaun, der sich inzwischen von seiner Überraschung erholt hatte, sah Imenja höhnisch an.

»Das würdest du nicht wagen.«

»Und ob ich es wage«, entgegnete sie.

»Die Götter werden es niemals zulassen.«

»Die Götter sind tot, Nekaun.«

Er verdrehte die Augen. »Du bist wirklich eine Närrin, wenn du das glaubst. Selbst wenn es wahr wäre, wird niemand es glauben - ebenso wenig wie die Anklage, die du erhoben hast. Die Menschen werden denken, es sei nichts als eine bequeme Lüge, um mich loszuwerden. Das Volk hat mich gewählt, vergiss das nicht. Es wird ihm nicht gefallen, wenn du seiner Entscheidung trotzt.«