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Imenja sah den König der Elai an. »Würdest du mir den Gefallen tun, ein Wort zu denken? Aber sprich es nicht laut aus.«

Der König runzelte die Stirn, dann zuckte er die Achseln.

»Rebellion«, sagte Imenja. »Hab ich recht?«

Der König nickte.

»Denk ein anderes Wort.« Sie hielt inne. »Vertrag«, erklärte sie. Der König nickte abermals. Nachdem sie diesen Vorgang noch drei weitere Male wiederholt hatte, blickte Imenja zu den Stimmen, den Götterdienern und den Ratgebern hinüber. »Habt ihr alle euch davon überzeugt, dass ich nach wie vor Gedanken lesen kann?«

Sie nickten.

»Glaubt ihr mir, wenn ich sage, dass Nekaun schuldig im Sinne der Anklage ist?«

Wieder nickten sie.

»Werdet ihr dies bezeugen, falls es jemals bestritten werden sollte?«

Auch diese Frage beantworteten sie mit einem Nicken. Solchermaßen zufriedengestellt, drehte Imenja sich wieder zu Nekaun um.

»Wenn ich dich wegen Unfähigkeit anklagen und dasselbe Ergebnis erzielen könnte, würde ich es tun«, erklärte sie. »Aber die Anklage, eine Götterdienerin vergewaltigt zu haben, ist sehr viel schwerwiegender, und es wäre nicht richtig, den Frauen, denen du das angetan hast, Gerechtigkeit zu verwehren.« Sie sah die anderen Stimmen an.

Vervel nickte. »Auf ein einziges Vergehen dieser Art stehen zehn Jahre Sklaverei. Ein zweites wird mit lebenslänglicher Sklaverei bestraft. Ein drittes…«

»…wird mit dem Tod bestraft«, beendete Nekaun Vervels Ausführungen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr habt keine…«

Reivans Gesicht wurde sengend heiß. Sie hörte einen Aufschrei des Zorns von Imenja, und plötzlich waren Licht und Lärm um sie herum. Ebenso plötzlich wurde alles wieder still. Reivan sah sich um. Mehrere Götterdiener lagen auf dem Boden, einige stöhnend, einige reglos. Imenja, Vervel, Genza und Shar standen über einem verkohlten, noch zuckenden Körper.

Nekaun, schoss es ihr durch den Kopf. Davon wird er sich nicht erholen. Der Gedanke erfüllte sie mit einer unerwartet machtvollen Erleichterung, aber als sie auf das verbrannte Fleisch hinabblickte, begann ihre Wange zu schmerzen. Heftig zu schmerzen. Imenja schaute zu ihr auf, und Mitgefühl ließ ihre Züge weicher erscheinen.

»Es tut mir leid, Reivan«, sagte sie und kam auf sie zugeeilt. »Ich habe dich nicht rechtzeitig geschützt. Ich hatte erwartet, dass er die Stimmen angreifen würde, nicht die Götterdiener.«

Reivan schüttelte den Kopf. »Es ist nichts.« Sie betrachtete Nekaun, der inzwischen aufgehört hatte zu zucken. »Ich nehme an, ihr habt ein hübsches Exempel an ihm statuiert.«

Imenja stieß ein atemloses Lachen aus. »Oh ja, das denke ich auch. Wenn man sich anschickt, die Welt zu beherrschen, muss man das eine oder andere Exempel statuieren. Und für den Anfang kann ich mir niemanden vorstellen, der dafür besser geeignet wäre als unsere ehemalige Erste Stimme.«

Reivan musterte Imenja forschend, konnte aber nicht entscheiden, ob ihre Herrin es ernst meinte oder nicht. Imenja erwiderte ihren Blick. »Was gibt es?«

»Du… Der Tod der Götter scheint dich nicht allzu sehr aus der Fassung zu bringen.«

»Oh, das ist ein Irrtum«, erwiderte Imenja mit Nachdruck. »Er bringt mich aus der Fassung, und ich bin wütend. Ja, ich werde immer wütender. Aber ich habe noch nicht entschieden, was ich deswegen unternehmen will.«

»Auraya verfolgen und sie töten?«

»Ich bin nicht auf Auraya wütend.«

Reivan zog überrascht die Augenbrauen hoch. Bei der Bewegung spannte sich die Haut auf ihrer Wange, und sie zuckte zusammen.

Imenja runzelte die Stirn. »Ich werde es dir später erklären. Wir müssen dich zu einem Traumweber schaffen.« Sie betrachtete die am Boden liegenden Götterdiener, dann wandte sie sich jenen zu, die noch standen. »Geht zurück und holt Hilfe«, befahl sie ihnen. »Verlasst euch nicht darauf, dass eure Anhänger funktionieren.« Zwei der Götterdiener nickten und eilten davon.

König Ais räusperte sich. »Wenn du mich nicht mehr brauchst, Zweite Stimme, werde ich zu meinem Volk zurückkehren.«

Sie neigte den Kopf. »Ja. Danke für deine Unterstützung, König Ais. Wir wissen deine Hilfe sehr zu schätzen.«

Er lächelte schwach. »Ich vermute, dass sie nicht länger vonnöten ist.«

»Nein. Aber es wäre uns eine Ehre, wenn wir auch in Zukunft weiter mit deinem Volk zusammenarbeiten dürften.«

Er verbeugte sich leicht. »Die Ehre wäre ganz meinerseits. Leb wohl. Und viel Glück.«

Sie sahen ihm nach, während er zum Straßenrand hinüberging. Er verschwand hinter der Böschung, und einen Moment später hörten sie ein leises Spritzen. Imenja wandte sich lächelnd zu Reivan um.

»Wir haben viel zu tun, und ich hoffe, du wirst mir dabei helfen.«

»Natürlich«, erwiderte Reivan. »Was immer geschieht, ich bin nach wie vor deine Gefährtin.«

Imenjas Lächeln wurde breiter, dann nahm sie ihren Arm, und sie gingen zusammen die Landenge hinab, auf ihre Heimat und eine neue, unerwartete Zukunft zu.

Die Weißen kehrten langsam und schweigend nach Diamyane zurück, die Köpfe gesenkt, die Gesichter gezeichnet von Trauer und Schock. Keiner der anderen Ratgeber sprach sie an, daher tat auch Danjin es nicht.

Er verstand nicht, was geschehen war, und die Fragen überschlugen sich in seinem Kopf. Was hatte Auraya getan? Spielten Mirar und die Traumweberin, die trotz Arleejs Protest nach vorn gelaufen war, eine Rolle bei dem Ganzen? Warum war Auraya so erregt gewesen, als sie sie verlassen hatte?

Er dachte daran, wie Mirar sie getröstet und dann zu einem Boot jenseits der Landenge geführt hatte, und Ärger stieg in ihm auf. Irgendetwas war noch immer zwischen den beiden. Das war offenkundig.

Schließlich erreichten die Weißen das Ende der Landenge. Die Hohepriester und Priesterinnen standen erwartungsvoll bereit, darauf gefasst, dass die Schlacht beginnen würde. Die Weißen blieben stehen und tauschten einen Blick. Juran wandte sich zu den Ratgebern und Traumwebern um, die ihnen zu der Begegnung mit dem Feind gefolgt waren, dann hob er die Hand, um den anderen Weißen zu bedeuten, dass sie warten sollten.

Als Danjin und die Übrigen ankamen, ergriff Juran das Wort.

»Die Götter sind tot«, sagte er. »Sowohl der Zirkel als auch die Fünf existieren nicht mehr. Es wird keine Schlacht geben. Packt eure Sachen und bereitet euch auf die Heimreise vor.«

Benommenes Schweigen folgte, dann wurden die Weißen mit Fragen überhäuft. Sie ignorierten sie, tauschten einige wenige Worte und gingen dann jeder in eine andere Richtung davon. Als Danjin sah, dass Ella sich auf den Weg zu den Schiffen machte, lief er hinter ihr her. »Ellareen!«, rief er, als er sie fast erreicht hatte. Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. Er blieb stehen und stellte erschrocken fest, dass ihr Tränen über die Wangen strömten.

»Hallo, Danjin«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab.

»Was ist passiert?«, hörte er sich fragen.

Sie wandte den Blick ab. »Genau das, was Juran gesagt hat. Die Götter sind tot.«

»Wie?«

»Auraya…« Ellas Stimme bebte vor Erschütterung. Ihr Blick war fest auf die Landenge gerichtet. »Die anderen Wilden. Sie haben sie in eine Falle gelockt. Sie haben sie getötet.«

Blankes Entsetzen verschlug Danjin die Sprache. Auraya hat uns verraten, dachte er. Aber nicht indem sie sich den Pentadrianern angeschlossen hat, wie wir befürchtet haben. Sie hat sich den Wilden angeschlossen.

Ella ging auf eine Gruppe von Dunwegern zu, die ein Schiff aus dem Wasser gezogen hatten. Sie drehte sich nicht um, um festzustellen, ob er ihr folgte. Er ließ den Blick schweifen und stellte fest, dass alle Schiffe Schlagseite hatten und teils vom Meer überspült wurden. In größerer Entfernung vom Ufer war statt der dunwegischen Kriegsschiffe nur noch ein Wald aus Masten zu sehen.