Emerahl hatte erwartet, dass es schwierig sein würde, Auraya zu unterrichten. Eine ehemalige Weiße sollte ein aufgeblähtes Selbstbewusstsein haben und zu stolz sein, Befehle von einem anderen - und erst recht von einem Wilden - anzunehmen. Aber Auraya hatte jede einzelne Anweisung ohne Widerspruch ausgeführt, und die einzigen Fragen, die sie gestellt hatte, waren vernünftig und nachvollziehbar gewesen.
Ich sollte erleichtert sein, aber stattdessen finde ich ihr Verhalten irritierend. Die Versuchung, Auraya auf die Probe zu stellen, indem sie von ihr verlangte, etwas Lächerliches und Demütigendes zu tun, war sehr stark. Auch das beunruhigte Emerahl. Ihr gefiel der Gedanke nicht, dass sie vielleicht in der Lage wäre, eine solche Tyrannin zu sein.
Auraya saß im Schneidersitz auf dem Bett, das früher einmal Mirar benutzt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, die Hände lagen entspannt im Schoß. An ihrem Finger steckte ein Priesterring, und an einem Wandschirm in der Nähe hing ein Priesterinnenzirk. Emerahl hätte nie erwartet, dass sie einmal eine zirklische Priesterin unterrichten würde, geschweige denn eine ehemalige Weiße. Die Ironie, dass sie eine Priesterin darin unterwies, wie sie ihre Gedanken vor den Göttern verbergen konnte, war ihr vollauf bewusst.
Während sie Auraya beobachtete, konnte sie nicht leugnen, dass die Frau attraktiv war. In körperlicher Hinsicht hätte Auraya sich von Emerahl nicht deutlicher unterscheiden können. Ihr Gesicht war schmal und kantig, das Emerahls eher breit. Sie war hochgewachsen und schlank, Emerahl klein und üppig. Aurayas Haar war glatt und von einem glänzenden Braun, Emerahls Haar rot und lockig.
Wenn es das ist, was Mirar gefällt…, ging es ihr durch den Kopf, dann hätte sie um ein Haar laut aufgelacht. Bin ich eifersüchtig? Ist das der Grund, warum ich ihr Verhalten so ärgerlich finde? Sie unterdrückte ein Seufzen. Ich habe schöne Zeiten mit Mirar gehabt, wir waren ein Liebespaar, aber ich war nie in ihn verliebt. Nicht so, wie normale Menschen sich verlieben und ein »Paar werden« und all das. Ich war nie eifersüchtig auf die Frauen, mit denen er geschlafen hat. Mirar und ich waren einfach nur Freunde.
Warum also der Groll? Vielleicht entsprang er einfach dem Bedürfnis, Mirar zu beschützen. Mirar hatte sie mehr als einmal gerettet, sowohl vor anderen als auch vor sich selbst. Würde er es wieder tun, wenn es eines Tages so weit käme, dass er sich zwischen ihr und Auraya würde entscheiden müssen?
Er würde wahrscheinlich Auraya wählen, dachte sie. Und dann würde sie ihn töten. Sie ist nach wie vor eine Anhängerin der Götter. Das ist doch Wahnsinn! Warum bin ich hier und gehe solche Risiken ein?
Weil Mirar sie darum gebeten hatte und weil die Zwillinge seiner Meinung gewesen waren. Auraya war imstande, eine Unsterbliche zu werden. Sie würde diesen Schritt vielleicht niemals tun, weil sie fürchtete, die Götter könnten sie dann zurückweisen, aber es bestand eine Chance, dass irgendetwas - oder irgendjemand - ihre Meinung ändern würde. Wenn sie zu einer Verbündeten wurde, würden sich alle Risiken auszahlen.
Ich sollte sie mir also besser nicht zur Feindin machen, überlegte Emerahl weiter.
Aurayas Atem ging jetzt schon seit einiger Zeit langsam und regelmäßig. Zu Emerahls Überraschung hatte sich herausgestellt, dass die junge Frau wusste, wie man sich in eine Traumtrance versetzte - indem man sich bewusst in den geistigen Zustand sinken ließ, in dem man sich durch Träume mit anderen vernetzen konnte -, obwohl sie zugab, dass die Prozedur ihr manchmal schwerfiel. Zirklern waren alle geistigen Vernetzungen verboten, aber Auraya hielt dies für ein untaugliches Gesetz, das nur wenige Leute ernst nahmen. Sie und Leiard hatten während ihrer Affäre regelmäßig Traumvernetzungen benutzt, um sich miteinander in Verbindung zu setzen.
Emerahl schloss die Augen, verlangsamte ihre Atmung und sank nach und nach in einen Traumzustand. Als sie bereit war, rief sie Aurayas Namen.
Jade?, antwortete Auraya.
Ja, ich bin es.
Emerahl spürte Erleichterung von der anderen Frau und vermutete, dass sie froh war, die Traumtrance zuwege gebracht zu haben.
In einer Traumvernetzung können wir uns miteinander in Verbindung setzen, erklärte sie Auraya, aber nur wenn wir beide in Trance sind oder aus dem Schlaf in einen Traumzustand hinübergeglitten sind. Ich werde dir beibringen, wie du nach dem Geist anderer Menschen greifen kannst. Es wird kein Austausch zwischen dir und ihnen möglich sein, aber du wirst sehen können, was sie denken.
Dann können Wilde also Gedanken lesen?
Ja, aber nur dann, wenn sie in Trance sind. Es erfordert Konzentration und Übung und kann sehr anstrengend sein. Die Gedanken, die du auffängst, sind zuerst oft unverständlich, aber mit der Zeit lernst du, sie zu deuten. Wir nennen das »Gedanken abschöpfen«.
Dann ist dies also keine Lektion, um mir zu zeigen, wie ich meinen Geist verbergen kann?
Nein, aber es wird dir helfen, ebendiese Prozedur zu verstehen. Strecke deinen Geist nach links aus. Es ist gleichzeitig ein Vorteil und ein Nachteil, in Si zu sein. Es gibt hier weniger Leute, deren Geist wir abschöpfen können, aber diese wenigen sind aufgrund ihrer Isolation leicht zu finden.
Auraya brauchte mehrere lange Minuten, um überhaupt etwas wahrzunehmen.
Ich spüre etwas… ah. Es ist ein Siyee. Er ist auf der Jagd.
Gut. Ich sehe ihn auch. Du kannst erkennen, dass seine Gedanken nicht geordnet sind, wie es der Fall wäre, wenn er sprechen würde. Es sind nur Bruchstücke, ebenso sehr Bilder wie Gedanken.
Ja. Das ist genauso wie das Gedankenlesen.
Ein Stich des Ärgers durchzuckte Emerahl. Wie konnte ich vergessen, dass sie früher in der Lage war, Gedanken zu lesen? Sie weiß bereits, wie Gedanken funktionieren.
Suche nach einem anderen Geist.
Auraya brauchte nur einen Augenblick, bevor sie wieder antwortete.
Ich sehe Tyve. Er nähert sich dem Wasserfall - er hat eine Nachricht für mich. Ich…
Die Verbindung brach ab, als Aurayas Konzentration ins Wanken geriet. Emerahl erwachte aus der Traumtrance und war nicht überrascht zu sehen, dass Auraya sich von dem Bett erhob.
»Bleib dort«, murmelte Emerahl warnend. »Du darfst den Leeren Raum nicht verlassen. Tyve wird hereinkommen müssen, um mit dir zu reden.«
Auraya setzte sich wieder hin. Sie sah Emerahl an. »Du tust am besten so, als seist du krank«, erwiderte sie.
Wieder fühlte Emerahl Ärger in sich aufsteigen. Sie legte sich hin und zog sich eine Decke über den Leib. Aus dem Tunnel war jetzt das Echo von Schritten zu hören, und kurz darauf trat ein junger Siyee in den Eingang der Höhle.
»Tyve«, sagte Auraya, stand auf und winkte ihn herbei. »Komm rein. Was führt dich hierher?«
Sein Blick wanderte zu Emerahl hinüber. »Ich habe eine Nachricht für dich.«
Auraya bedeutete ihm abermals, näher zu kommen, und der Junge gehorchte. Er lächelte Emerahl an. »Wie geht es dir, Jade? Fühlst du dich schon besser?«
»Ja«, sagte sie. »Dank Aurayas Hilfe.«
Der Junge trat näher an Auraya heran und murmelte etwas. Auraya blickte auf ihren Priesterring hinab, dann zuckte sie die Achseln und antwortete mit leiser Stimme. Worüber sprachen die beiden, das Emerahl nicht hören sollte?