Aber du hast es nicht getan.
Nein. Ihr habt mich beide ausgenutzt. Ihr habt mich gezwungen zu lernen, wie ich meine Gedanken verbergen kann, um euch zu schützen.
Wir haben dich gezwungen, etwas zu lernen, das dir das Leben retten könnte.
Oder es beenden.
Du glaubst also, dass die Götter dich töten werden, wenn sie deine Gedanken nicht lesen können?
Auraya stutzte. Ärger und Erschöpfung trieben sie dazu, unlogische Dinge zu sagen.
Nein. Es wird unser Verhältnis lediglich verschlechtern. Ist das deine Art, Rache zu üben? Bestrafst du mich oder versuchst du, mich dazu zu zwingen, mich von den Göttern abzuwenden?
Weder noch! Ich möchte dir helfen, indem ich dir zeige, wie du dich schützen kannst. Ich möchte, dass du all das wirst, was zu sein dir bestimmt ist - was zu sein du verdient hast! Eine mächtige Zauberin. Eine Unsterbliche. Er hielt inne. Möchtest du nicht unsterblich sein?
Ein Frösteln überlief Auraya. Möchte ich das? Natürlich tue ich das. Aber ich möchte nicht unsterblich sein, wenn das bedeutet, dass ich mich von den Göttern abwenden muss. Ich möchte keine Wilde sein, gehetzt und verhasst.
Ihre Wut vertiefte sich, aber diesmal richtete sie sich gegen die Götter. Warum muss es so sein? Ich kann unsterblich sein und trotzdem den Göttern huldigen. Warum müssen sie mich daran hindern, all das zu werden, was ich sein kann, obwohl es keine Gefahr für sie darstellt?
Vielleicht würde Chaia ihr diese Freiheit gestatten, aber Huan würde es niemals tun. Huan verlangte von ihren Anhängern bedingungslosen Gehorsam. Ich habe ihre Wertschätzung bereits verloren, indem ich mich als unwürdig erwiesen habe, dachte sie. Vielleicht wird sie mir irgendwann verzeihen. In der Zwischenzeit wäre ich gut beraten, der Göttin keinen weiteren Grund zu liefern, mir zu misstrauen.
Als du mich in der Heilkunst unterwiesen hast, hast du mich Jade zufolge genug gelehrt, um mich in die Lage zu versetzen, das Geheimnis der Unsterblichkeit selbst zu entdecken, sagte sie zu Mirar. Vielleicht werde ich eines Tages in der Position sein, es zu versuchen, ohne den Unwillen der Götter zu erregen. Aber für den Augenblick ist es sinnlos. Was du Unsterblichkeit nennst, ist keine wahre Unsterblichkeit. Ich kann trotzdem getötet werden. Ich werde getötet werden, wenn ich den Göttern noch einmal trotze.
Mirar schwieg lange, bevor er antwortete.
Die Götter können sehr lange an einem Groll festhalten, Auraya. Sie werden vielleicht keine Magie benutzen, um dich zu töten, aber sie können dafür sorgen, dass das Alter ihnen diese Arbeit abnimmt. Und vergiss eines nicht: Wenn ich glaubte, die Erlangung von Unsterblichkeit sei der einzige Grund, warum die Götter dich töten könnten, hätte ich es niemals riskiert, dich in der Heilkunst zu unterweisen.
Und mit diesen Worten war er verschwunden.
6
Angeblich sind doch ältere Leute immer die Vorsichtigen, dachte Ranaan, während er Traumweber Fareeh die dunkle Gasse hinunter folgte. Jüngere Leute sind diejenigen, die sich Hals über Kopf in Gefahren stürzen. Also, was ist los mit uns beiden? Warum ist mein Lehrer derjenige, der bereit ist, Risiken einzugehen, während ich derjenige bin, der halb verrückt ist vor Angst?
Sie näherten sich dem Ende der Gasse, und Fareeh blieb stehen, um in eine größere Straße zu spähen.
Weil ich ein Feigling bin, sagte sich Ranaan. Und weil Fareeh keiner ist. Außerdem ist es für ihn einfacher. Er besitzt Gaben, und er ist groß. Ich bin ein magerer Wicht, und ich weiß, dass ich in sechs Monaten nicht einmal genug Gaben erlernt habe, um mich gegen einen Angriff von Pfeilbienen zu verteidigen.
Der hochgewachsene Mann trat auf die Straße. Ranaan holte tief Luft und zwang sich, ihm zu folgen. Sie gingen zielstrebig weiter, hielten sich aber so weit wie möglich in den Schatten der Gebäude. In diesem Teil der Stadt waren die einzigen Lampen diejenigen, die die Bewohner der Häuser brennen ließen. Der Mond stand allerdings hell und rund am Himmel.
Ranaan heftete seinen Blick auf die vor ihm gehende Gestalt seines Lehrers. Die gelassene Zuversicht des Traumwebers hatte auf die Patienten im Hospital stets eine beruhigende Wirkung. Er war alles, was sie an Traumwebern schätzten: stämmig, ruhig, kenntnisreich und geduldig. Und er unternahm diese Krankenbesuche trotz aller Gefahren, weil er ein netter Mensch war.
Ich wünschte nur, er hätte nicht darauf bestanden, dass ich ihn begleite.
Ranaan verzog das Gesicht. Ich bin kein netter Mensch. Ich bin ein Feigling, der lieber jemanden sterben lassen würde, als das Risiko einzugehen, verprügelt zu werden. Ich habe einen so guten Lehrer gar nicht verdient.
Direkt vor ihnen wurde eine Tür geöffnet. Ranaans Herz begann zu rasen, als drei lachende Männer herauskamen. Fareeh hielt nicht einmal inne. Er ging um sie herum, und Ranaan folgte ihm.
Während er und sein Lehrer ihren Weg fortsetzten, zitterten dem jungen Traumweber die Knie. Er spitzte die Ohren und lauschte, um festzustellen, ob sie verfolgt wurden. Hinter ihnen waren Schritte zu hören, die langsam leiser wurden. Lag das daran, dass die Männer sich Mühe gaben, weniger Lärm zu machen?
Er blickte hinter sich. Die Männer gingen in die andere Richtung.
»Wir sind fast da«, murmelte Fareeh.
Ranaan sah seinen Lehrer an und bekam ein wissendes Lächeln zur Antwort. Er spürte, dass sein Gesicht warm wurde, und sagte nichts. Sie bogen in eine Gasse ein. Fareeh blieb stehen und schuf einen Lichtfunken, um die Wegbeschreibung zu beleuchten, die er sich auf einem Stück Papier notiert hatte. Schließlich nickte er, löschte das Licht und ging weiter.
Der Weg führte um den vorspringenden Teil eines Gebäudes herum, dann endete er. Fareeh verlangsamte sein Tempo und blickte zu den Gebäuden um sie herum auf.
»Man hat mir mitgeteilt, sie würden ein Licht im Fenster brennen lassen …«
Seine leisen Worte gingen im Knall einer zugeschlagenen Tür unter. Hinter ihnen wurden Schritte laut. Ranaan drehte sich um, und sein Herz begann aufs Neue zu rasen. Er zählte acht, vielleicht neun Gestalten, die ihn und seinen Lehrer umringten.
»Was hast du hier zu suchen, Traumweber?«
Der Akzent war typisch für das Armenviertel, aber irgendetwas daran klang falsch in Ranaans Ohren.
Fareeh warf noch einmal einen schnellen Blick auf die Fenster der Gebäude in der Nähe.
»Ich stelle gerade fest, dass ich am falschen Ort bin«, antwortete er. »Die Wegbeschreibung, die man mir gegeben hat, scheint falsch zu sein.«
»Da hast du recht«, sagte eine andere Stimme. Ranaan blickte zu dem Sprecher hinüber. Die hohe Stimme des Mannes passte nicht recht zu seinem massigen Körperbau.
»Wir werden euch nicht länger belästigen«, entgegnete Fareeh. Er machte einen Schritt auf die Lücke zwischen zweien der Männer zu, dann blieb er stehen. Die Männer waren enger zusammengerückt, um ihm den Weg zu versperren.
Ranaan unterdrückte ein Stöhnen des Entsetzens und der Furcht. Seine Beine zitterten, und ihm war übel. Er fragte sich, ob sein Herz noch schneller schlagen konnte. Wenn es das tat, würde es ihm vielleicht einfach aus der Kehle springen.
Ein Lichtfunken erschien und beleuchtete die Innenfläche von Fareehs Hand. Der Funke wurde größer, und Ranaan blickte daran vorbei zu den Gesichtern der Männer hinüber. Sein Mund wurde trocken, als er begriff, warum der Akzent des ersten Sprechers so falsch geklungen hatte.
Dies war keine hiesige Straßenbande. Der Akzent war nicht echt gewesen. Obwohl die Kleider der Männer schlicht waren, waren sie doch von guter Qualität - lässige Gewänder, in denen man im Freien Sport trieb. Ihr Lächeln enthüllte beinahe makellose Zähne. Der Mann mit der hohen Stimme war nicht muskulös, sondern trug das Fett eines Menschen, der in Maßlosigkeit lebte.