Yranna hat gesagt, ich soll dich bewegungsunfähig machen, dachte sie, nicht dich töten. Was hattest du überhaupt vor, Mal Werkzeugmacher?
Einem Impuls folgend griff sie nach einigen Streifen Verbandszeug, fesselte ihn an Händen und Füßen und knebelte ihn. Um ihr Tun zu verbergen, breitete sie eine Decke über den Mann, bis man nur noch den oberen Teil seines Kopfes sehen konnte.
Aber das würde ihn nicht daran hindern, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sobald er aufwachte. Die anderen werden wissen wollen, warum ich das getan habe. Was soll ich ihnen erzählen? Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr glauben würden, wenn sie berichtete, die Göttin habe ihr den Befehl dazu gegeben. Nun, irgendwann werden sie mir vielleicht glauben, aber in der Zwischenzeit werden sie ihn wahrscheinlich freilassen, so dass er tun kann, was immer er plant.
Er hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen, daher wäre es plausibel zu behaupten, er habe an Schwindel und Verwirrtheit gelitten. Schlafdrogen waren in solchen Fällen jedoch nicht die übliche Behandlung. Um die zu erklären, würde sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen.
»Ella!«, rief eine vertraute Stimme aus dem Flur.
Ella fuhr herum. Ihre Mutter musste Priester Naen entschlüpft sein. Sie eilte aus dem Raum, bevor sie sie mit einem gefesselten und geknebelten Patienten entdecken konnte.
Im Flur kam ihr eine dünne, ergrauende Frau entgegen, die ein sauberes, gut geschneidertes Kapas aus feinem Tuch trug. Als sie Ella sah, runzelte sie missbilligend die Stirn.
»Ella. Endlich. Ich muss ein kleines Gespräch mit dir führen.«
»Solange es nur klein ist«, erwiderte Ella geschäftsmäßig. »Lass uns zurück in die Begrüßungshalle gehen.«
»Du musst aufhören, hier zu arbeiten«, sagte ihre Mutter mit leiser Stimme, während sie Ella folgte. »Es ist zu gefährlich. Es ist schon schlimm genug zu wissen, dass du ständig dem Einfluss dieser Heiden ausgesetzt bist, aber jetzt ist alles noch schlimmer geworden. Die Gerüchte haben sich überall in der Stadt ausgebreitet. Es überrascht mich, dass du nicht von dir aus vernünftig genug gewesen bist, um fortzugehen aus diesem …«
»Mutter«, unterbrach Ella sie. »Wovon redest du eigentlich?«
»Mirar ist zurück«, antwortete ihre Mutter. »Oder hast du das noch nicht gehört?«
»Offenkundig nicht«, sagte Ella.
»Er war - ist - der Anführer der Traumweber. Ein Wilder, musst du wissen. Es heißt, er sei vor einem Jahrhundert doch nicht getötet worden; er habe überlebt. Er hat sich versteckt, und jetzt ist er zurückgekommen.«
»Wer sagt das?«, fragte Ella und versuchte, nicht allzu skeptisch zu klingen.
»Alle - und du brauchst mich gar nicht so anzuschauen. Viele Leute haben ihn gesehen. Und die Weißen bestreiten es nicht.«
»Haben sie denn überhaupt die Chance gehabt, das zu tun?«
»Natürlich haben sie die gehabt. Und du hörst mir jetzt zu. Du kannst hier nicht länger arbeiten. Du musst aufhören!«
»Ich werde nicht wegen eines Gerüchts Menschen im Stich lassen, die meine Hilfe brauchen.«
»Es ist kein Gerücht!«, rief ihre Mutter und vergaß dabei ganz, dass sie die Berichte über Mirars Rückkehr bereits selbst als Gerücht bezeichnet hatte. »Es ist die Wahrheit! Was ist, wenn er hierherkommt? Überleg doch nur, was er dir antun könnte! Du wirst ihn vielleicht nicht einmal erkennen. Er könnte in diesem Moment hier arbeiten, in Verkleidung! Er könnte dich verführen!«
Ella konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Sie verführen, wahrhaftig! »Die Traumweber interessieren mich nicht, Mutter.«
Aber die Frau hörte nicht zu. Während die möglichen Gefahren für Ellas Person immer ungeheuerlicher wurden, führte Ella ihre Mutter zu einer Bank in der Begrüßungshalle.
»Und jetzt sieh dir nur an, was passiert ist«, sagte ihre Mutter abrupt, während sie sich hinsetzte. »Weil er zurückgekommen ist, sitzen wir hier fest. Hat dieses Haus keine Hintertür? Können wir nicht …«
»Nein. Wenn so etwas passiert, stehen draußen vor dem Hintereingang immer schon Unruhestifter bereit.«
»Wenn du eine Hohepriesterin wärst, würden sie das nicht wagen.«
Ella unterdrückte ein Seufzen. Verrat mir eins, Yranna, sind alle Mütter so? Sind sie mit ihren Sprösslingen jemals zufrieden? Wenn es mir gelänge, eine Hohepriesterin zu werden, würde sie dann auf die Idee kommen, dass ich eine Weiße sein sollte? Und wenn ich durch ein Wunder zu einer Weißen würde, würde sie dann anfangen, an mir herumzunörgeln, dass ich eine Göttin werden solle?
Sie gab ihrer Mutter die gewohnte Antwort. »Wenn ich eine Hohepriesterin wäre, hätte ich überhaupt keine Zeit mehr, dich zu sehen.«
Ihre Mutter zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Wir bekommen dich ohnehin kaum noch zu sehen.«
Nur jeden zweiten oder dritten Tag, dachte Ella. Wie nachlässig ich doch bin. Wie schwer meine Eltern es haben. Wenn ich je so werden sollte, dachte sie, bitte, Yranna, sorg dafür, dass jemand mich umbringt.
»Hast du schon gehört, wer Auraya ersetzen wird?«, erkundigte sich ihre Mutter.
»Nein.«
»Du musst inzwischen doch irgendetwas gehört haben.«
Wie schafft sie es nur, dass selbst das so klingt, als sei es meine Schuld?
»Wie du schon so viele Male bemerkt hast, ich bin nur eine niedere Priesterin, die weder Beachtung noch Respekt verdient oder auch nur eine Einweihung in die tiefsten Geheimnisse der Zirkler«, erwiderte Ella trocken und vollauf darauf gefasst, für ihren Sarkasmus ausgescholten zu werden.
Aber ihre Mutter hörte ihr nicht zu. »Es wird einer der Hohepriester sein«, sagte ihre Mutter, wobei sie im Wesentlichen mit sich selbst sprach. »Wir brauchen jemanden, der stark ist - kein frivoles junges Mädchen mit einer Vorliebe für Heiden. Die Götter haben recht daran getan, diese Auraya hinauszuwerfen.«
»Sie ist nicht hinausgeworfen worden. Sie ist zurückgetreten, um den Siyee zu helfen.«
»Da habe ich aber etwas anderes gehört.« Das Gerücht, in das sie eingeweiht war, ließ die Augen ihrer Mutter triumphierend aufleuchten. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie sich geweigert habe zu tun, was die Götter von ihr verlangten, und dass sie ihr deshalb ihre Kräfte genommen hätten.«
Ella knirschte mit den Zähnen. »Nun, ich unterhalte mich ständig mit Yranna, und sie hat nichts dergleichen erwähnt. Außerdem verbringt eine gute Heilerin ihre Arbeitszeit nicht damit zu schwatzen.«
Ihre Mutter kniff die Augen zusammen und reckte das Kinn vor. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, hörte Ella jemanden ihren Namen rufen. Sie blickte auf, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie Priester Naen und Priester Kleven näher kommen sah. Beide wirkten beunruhigt.
»Was ist mit dem Mann mit dem Schnitt auf der Stirn geschehen, Ella?«, fragte Kleven.
»Er … er ist wütend geworden, als er hörte, dass wir hier in der Falle sitzen.«
»Also hast du ihn betäubt?«
Sie ließ ihre Mutter auf der Bank sitzen, erhob sich und eilte zu Kleven hinüber, bevor sie mit leiser Stimme erklärte: »Ja. Er war … sehr wütend. Ich habe Schlafdunst benutzt, und als ich keine abträglichen Nebenwirkungen bei ihm bemerken konnte, habe ich ihm eine winzige Dosis Schlafleicht gegeben.«