Eine Frau in mittleren Jahren stand auf, um Amli zu begrüßen. Er stellte sie als seine Ehefrau vor. Als sie Amlis Geschichte hörte, schnalzte sie voller Sorge mit der Zunge, dann brachte sie Ranaan zu einem Sessel und drückte ihm einen Becher in die Hand. Das Getränk war unvertraut und alkoholisch, aber es schmeckte süß und brachte eine wohltuende Wärme mit sich, die den Schmerz in seinem Innern so weit linderte, dass er wieder klar zu denken vermochte.
»Danke«, sagte er ein wenig verspätet. »Ich danke euch beiden.«
Amli und seine Frau lächelten. »Ich werde dir ein Bett zurechtmachen«, sagte die Frau und verschwand dann eine Treppe hinauf.
Ranaan sah sich in dem schmalen Raum um. An einer Seite brannte ein Kohleofen, um den einige Bänke standen, ein Hinweis darauf, dass hier von Zeit zu Zeit Menschen zusammenkamen. Er vermutete, dass sich oben ein oder zwei Schlafzimmer befanden. Es war ein kleines Haus, aber sauber und ordentlich.
»Wie lange lebt ihr schon hier?«, fragte er.
Amli füllte einen weiteren Becher mit dem Getränk. »Seit fast einem Jahr. Ich habe einen Stand auf dem Hauptmarkt. Wir führen Gewürze und Töpferwaren ein.«
Einige seltsame Zierstücke schmückten die Wände. Sie wirkten fehl am Platze. Auch manche der Töpfe, die in der Nähe des Kohleofens standen, hatten merkwürdige Formen. Ranaan betrachtete den Becher, aus dem er trank. Das Zeichen des Töpfers auf der Unterseite war ein Bild von einem dieser fremdartigen Töpfe, und am Rand war ein Stern zu sehen.
Ein Stern. Ein Kribbeln überlief Ranaan, als ihm eine mögliche Erklärung dafür dämmerte. Sein Blick fiel auf Amlis Hals. Unter dem Kragen seiner Tunika hing eine silberne Kette - eine schwere Kette für einen schweren Anhänger.
»Du hast gesagt, du kommst aus dem Süden?«, fragte Ranaan.
»Ja.«
»Seid ihr Pentadrianer?«
Amli antwortete nicht sofort, sondern sah Ranaan ernst an, bevor er ihm den Becher abnahm.
»Was bringt dich auf diese Idee?«
»Ihr hegt keinen Hass gegen Traumweber.«
Amli lachte leise. »Also können wir keine Zirkler sein. Daher müssen wir Pentadrianer sein.«
»Fareeh pflegte zu sagen, dass man einen Sennoner von einem Südländer unterscheiden könne, weil die Sennoner andere Religionen zwar dulden, aber dennoch gern so tun, als existierten sie nicht.«
»Nicht alle Sennoner sind so.«
»Welche sind es denn nicht?«
Amli lächelte. »Die sennonischen Traumweber. Und die sennonischen Pentadrianer.« Amli füllte Ranaans Becher nach. »Wir wissen beide, wie es ist, wenn man wegen seines Glaubens verfolgt wird.«
»Aber in eurem eigenen Land werdet ihr nicht verfolgt.«
Wieder lächelte Amli. »Nein.«
Also ist er ein Pentadrianer, dachte Ranaan. Dann stellte er fest, dass ihn das überhaupt nicht kümmerte. Er war überrascht, aber nicht entsetzt.
Amli gab Ranaan seinen Becher zurück. »Als wir hier ankamen, haben neidische Händler das Gerücht in Umlauf gesetzt, wir seien Pentadrianer, damit die Leute nichts von uns kauften. Das hat uns davon überzeugt, dass wir recht daran taten zu behaupten, wir stammten aus Sennon.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nichts im Vergleich zu dem, was sie hier Traumwebern antun. Die Zirkler sind durch und durch böse.«
»Und die Pentadrianer sind es nicht? Ist es nicht etwas Böses, ein anderes Land zu überfallen?«
»Ja«, stimmte Amli ihm zu, dann wandte er den Blick ab und seufzte. »Es war falsch. Unsere Götter hatten die bösen Taten der Zirkler gesehen und gaben uns den Befehl, sie aufzuhalten. Wir haben angenommen, der Krieg sei die beste und schnellste Möglichkeit, das zu erreichen, aber am Ende haben wir nur jene getötet, die wir retten wollten. Und wir haben den Preis dafür mit unseren eigenen Toten bezahlt.«
Er wirkte mit einem Mal furchtbar traurig. Ranaans Gedanken kehrten zu Fareeh zurück, und sein Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen. Sein Lehrer war nicht von Pentadrianern getötet worden, sondern von Banditen. Von zirklischen Banditen. Die Zirkler waren in der Tat böse.
»Erzähl mir mehr über die Pentadrianer. Wie sind eure Götter?«
Amli sah auf, und sein Blick klärte sich. Er lächelte. »Was möchtest du denn wissen?«
Die Wurzeln, die Auraya schälte, färbten ihre Haut orange. Jade hatte Auraya nicht gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen, sie hatte ihr lediglich die Wurzeln gegeben und im Tonfall eines Menschen, der Gehorsam erwartete, gesagt: »Schälen.« Auraya sah keinen Sinn darin, sich zu weigern; auf diese Weise hatten ihre Hände zu tun, während sie herauszufinden versuchte, wie sie ihren Geist abschirmen konnte.
Zumindest war Jade bereit, ihr zu erklären, wozu die Wurzeln dienten. Man benutzte sie sowohl als Farbe wie auch als Kur bei Kopfhauterkrankungen, obwohl sie in letzterem Fall besser funktionierten, wenn der Saft frisch aufgetragen wurde, statt in Form eines mit Wasser gemischten Pulvers.
Zu den anderen »Kuren«, die Jade zubereitet hatte, gehörten ein aus Insektengift hergestellter Trank, der ein träges Herz kräftigte, Borke, die eine ähnlich anregende Wirkung hatte wie die, mit der Leiard sie früher bekannt gemacht hatte, und Pilze, über deren entspannende und aufbauende Wirkung sich Jade nicht weiter auslassen mochte.
Es war auf seltsame Weise logisch zu erfahren, dass Mirars Freundin sich auf die Herstellung von Heilmitteln und die Heilkunst selbst ebenso gut verstand wie er. Die Vorbereitung der verschiedenen Zutaten weckte in Auraya Erinnerungen an ihre Kindheit, an die vielen Stunden, in denen sie Leiard geholfen und von ihm gelernt hatte. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie. Damals war alles so viel einfacher gewesen.
»Ist dir eigentlich bewusst, wie viel Zeit du darauf vergeudest, über Dinge nachzugrübeln, die du bedauerst oder die dir Sorgen machen?«, bemerkte Jade plötzlich. »Ich weiß nicht, ob du noch an deinem Weggang von den Weißen zu kauen hast, ob du dich mit der Furcht quälst, du könntest die Götter gegen dich aufbringen, ob du wegen deiner großen, verlorenen Liebe in Gefühlsduselei verfallen bist - oder alle drei Dinge gleichzeitig -, aber du beschäftigst dich ziemlich viel damit.«
Auraya blickte auf und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Jade sagte ihr ständig, was sie gerade empfand, um sie wissen zu lassen, dass ihre Versuche, ihren Geist zu verbergen, scheiterten. »Es gibt nicht viel anderes zu tun, während man Wurzeln schält.«
»Ich muss zugeben, Selbstmitleid gehörte nicht zu den Dingen, die ich so oft von einer ehemaligen Weißen aufzufangen erwartet hatte.«
»Nein? Was hattest du denn erwartet?«
Die Frau schürzte die Lippen. »Arroganz. Eine selbstgerechte, die Götter liebende junge Frau mit aufgeblähten Vorstellungen, was ihre eigene Wichtigkeit betrifft.«
»Und das ist nicht das, was du gefunden hast?«
»Nein. Damit hätte ich leben können. Stattdessen muss ich mich mit Undankbarkeit und Selbstmitleid herumschlagen.«
Auraya blinzelte überrascht. »Undankbarkeit?«
»Ja. Vergiss nicht, ich kann deine Gefühle spüren. Es hat nur wenig Dankbarkeit gegeben.«
»Dankbarkeit lässt sich nicht erzwingen. Und sie ist schwer zu empfinden, wenn der Lehrer versucht, ein so unangenehmer Gefährte zu sein wie nur möglich.«
»Du hast bisher auch nicht viel getan, das mir geholfen hätte, dich liebzugewinnen«, entgegnete Jade.
»Was nur beweist, dass deine Erwartungen falsch waren. Obwohl ich glaube, dass du in einem Punkt richtig gelegen hast.«
»Oh?«
»Ich liebe die Götter tatsächlich.«
Jade hielt in der Arbeit inne und sah Auraya mit undeutbarer Miene an. »Also habe ich mich geirrt. Nett von dir, mich darauf hinzuweisen.« Ihre Stimme klang tonlos, aber Auraya konnte den unterdrückten Ärger und die Furcht dahinter hören.
»Und du hasst sie«, stellte sie fest. »Warum?«
Jade zog die Brauen zusammen, und die Schnitte ihres Messers wurden aggressiver. »Ich könnte den ganzen Tag darauf verwenden, die Gründe dafür aufzuzählen. Ich hatte tausend Jahre Zeit, sie aufzulisten. Aber welchen Sinn hätte es, dir das zu erzählen? Du wirst mir nicht glauben, und selbst wenn du es tätest, würdest du die Götter immer noch lieben. Liebe ist blind, ob sie nun einem Geliebten gilt, der Familie oder den Göttern.«