»Wie ist es denn so, wenn man so lange lebt?«
Jade blickte zu Auraya auf und zuckte die Achseln. »Nicht so aufregend, wie du vielleicht glaubst«, sagte sie. »Die meiste Zeit denkst du gar nicht darüber nach. Deine Gedanken drehen sich um unmittelbare Belange: was du heute essen wirst, wo du schlafen wirst. Du nimmst das Wissen, das du über die Jahre gesammelt hast, für selbstverständlich. Wenn du es brauchst, ist es da, und oft überlegst du gar nicht, wann du dieses Wissen erworben hast. Ab und zu geschieht etwas, das dich innehalten und über die Vergangenheit nachsinnen lässt, und das sind die Augenblicke, in denen du dir deines Alters am deutlichsten bewusst bist. Du nimmst Veränderungen wahr, die niemandem sonst auffallen, nicht einmal den Geschichtsschreibern. Außerdem siehst du, dass manche Dinge sich niemals ändern. Die Menschen werden sich immer verlieben und ihre Liebe wieder verlieren. Ehrgeizige Männer und Frauen werden immer nach Macht streben. Habgierige Männer und Frauen werden immer Reichtum horten. Sterbliche werden Sterbliche sein.«
»Dann können Unsterbliche sich also auf eine Art und Weise ändern, wie sie Sterblichen nicht offensteht?«
Jade blickte versonnen drein. »Ja und nein. Unsterblichkeit macht uns nicht klüger. Erfahrung dagegen durchaus. Wir versuchen, den gleichen Fehler nicht zweimal zu machen, aber Erinnerungen verblassen, und manche Erinnerungen verblassen schneller als andere. Und es gibt immer neue Fehler, die man machen kann.« Sie verzog das Gesicht. »Manchmal wollen wir den gleichen Fehler machen. Liebe zum Beispiel. Indem sie sich verlieben, riskieren Sterbliche immer großen Schmerz; für Unsterbliche ist dieser Schmerz eine Gewissheit. Entweder die Liebe stirbt, oder derjenige, den du liebst, tut es.«
Ein Anflug von Bitterkeit hatte sich in Jades Stimme geschlichen. Auraya sah sie mitfühlend an.
»Lohnt es sich, den Schmerz zu ertragen?«
Jade lächelte freudlos. »Ja, solange du nicht allzu oft leidest. Ich habe Kinder geboren und sterben sehen. Das war noch schmerzlicher, und doch habe ich es mehr als einmal getan.«
»Dann können Unsterbliche also Kinder bekommen?«
»Natürlich.« Jade runzelte die Stirn. »Warum auch nicht?« Dann weiteten sich ihre Augen, als sie plötzlich begriff. »Während du eine Weiße warst, haben die Götter dafür gesorgt, dass du nicht empfangen konntest, nicht wahr?«
Auraya zuckte die Achseln. »Wir könnten uns nicht ganz und gar unserer Arbeit widmen, wenn wir Kinder bekommen und großziehen würden.«
»Die Götter halten nicht viel von Freizeit, wie? Aber wie dem auch sei, Kinder würden dich verletzbar machen. Glaub mir, ich weiß, wie verletzbar Kinder dich machen können, wenn man sie gegen dich benutzt.«
»Was ist passiert?«
Jade schüttelte den Kopf. »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Manche Erinnerungen bleiben besser begraben.«
Auraya nickte und überlegte, wie sie das Thema wechseln konnte. »Waren deine Kinder Zauberer?«
»Einige. Manche von ihnen hatten so gut wie gar keine Gaben. Keines ist unsterblich geworden. Sie waren nicht stark genug. Ich glaube nicht, dass jemals ein Unsterblicher ein unsterbliches Kind hervorgebracht hat.«
»Nicht einmal dann, wenn beide Eltern unsterblich waren?«
»Ich habe von keinem Kind gehört, auf das das zugetroffen hätte.«
»Vielleicht würde das einen Unterschied machen.«
Jade zuckte die Achseln, dann starrte sie Auraya an. »Hast du die Absicht, ein solches Experiment in naher Zukunft zu wagen? Ich hatte den Eindruck, dass du Mirar keine zärtlichen Gefühle entgegenbringst.«
Auraya musterte die Frau stirnrunzelnd und fragte sich, weshalb ihre Stimmung so plötzlich umgeschlagen war.
»Nein.«
»Weiß Mirar über dich und Chaia Bescheid?«, fragte Jade.
»Natürlich nicht.«
»Hast du vor, es ihm zu erzählen?«
»Wirst du es tun?«
Jade legte ihre Arbeit nieder. »Ja. Ich wusste, dass du es nicht tun würdest, aber Mirar verdient zu wissen, dass du seine Gefühle nicht erwiderst.«
»Das weiß er bereits«, antwortete sie Jade.
»Wenn dir nichts an ihm liegt, warum ist es dir dann nicht gleichgültig, ob er weiß, wer dein Geliebter ist?«
»War«, verbesserte Auraya sie. »Weil diese Information niemanden etwas angeht.«
»Ob zum Guten oder zum Schlechten, es ist kein Geheimnis mehr. Ich kann es ihm geradeso gut erzählen, bevor ihm eine weitere Torheit einfällt, die er aus Liebe zu dir vollbringen könnte.«
Auraya seufzte. »Dann erzähl es ihm. Es wäre mir schrecklich, wenn ich die Verantwortung für seine Schwierigkeiten übernehmen müsste - wieder einmal.«
Jades Augen wurden schmal. »Dir liegt wirklich nichts an ihm, nicht wahr?«
»Ich habe Leiard geliebt, nicht Mirar.«
»Er ist Leiard. Leiard ist ein Teil von ihm.«
Auraya zwang sich, Jades Blick standzuhalten. »Leiard war niemals real. Ich kann das wenige, was mir von meinem Leben geblieben ist, nicht für ein erfundenes Bruchstück einer Person opfern, das irgendwo in einem Mann vergraben ist, den ich nicht kenne. Und nach allem, was du über die Liebe gesagt hast - dass sie ein Fehler ist -, verstehe ich nicht, warum du von mir erwartest, anders zu empfinden.«
Jade sah Auraya lange an, dann wandte sie den Blick ab.
»Ich glaube, was mich erzürnt, ist der Umstand, dass ich deiner Meinung bin«, sagte sie mit einer grimmigen, leisen Stimme. »Ich würde das Gleiche tun. Ich will wahrscheinlich nur deshalb, dass du ihn liebst, weil ich meine Ängste auf diese Weise mildern könnte. Wenn du ihn liebtest, würdest du uns keinen Schaden zufügen. Stattdessen muss ich Mirar Glauben schenken. Er schwört, dass uns von dir keine Gefahr droht. Narr, der er ist, hat er doch in der Vergangenheit niemals einen Menschen falsch beurteilt - nicht einmal dann, wenn er von Liebe geblendet war.« Sie hob warnend einen Finger. »Liefere uns keinen Beweis dafür, dass er sich in dir geirrt hat.«
Auraya sagte nichts. Jade warf ihren Stein wieder in den Eimer und versiegelte den Krug mit dem weißen Pulver. Dann erhob sie sich, stellte den Krug zu ihren Vorräten und wandte sich schließlich wieder zu Auraya um.
»Ich gehe noch einmal fort, um uns etwas zu essen zu suchen.«
Nachdem die andere Frau gegangen war, breitete sich eine bedrückende Stille in der Höhle aus. Auraya konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie Jade irgendwie enttäuscht hatte. Sie ist lediglich bekümmert darüber, dass ich Mirar nicht liebe, dachte sie. Und es gibt keinen Grund, warum ich mich deswegen schuldig fühlen sollte.
Sie sah sich in der Höhle um und seufzte. Ich fühle mich einsam, begriff sie mit einem Mal. Ich frage mich, wie es Unfug gehen mag. Sie vermisste seine Gesellschaft, seine fraglose Ergebenheit. Warum sind Veez so, wie sie sind? Dabei ist es nicht einmal ein Vorteil für sie, sich auf solche Weise an Menschen zu binden … vielleicht einmal abgesehen von der Tatsache, dass sie nicht jagen müssen, um Nahrung zu finden, und eine gute Chance auf ein sicheres Heim und ein warmes Bett haben… Ich denke, diese Frage habe ich mir gerade selbst beantwortet.
Es gefiel ihm nie, wenn sie fortging. Wenn sie sich doch nur irgendwie mit ihm in Verbindung setzen könnte.
Ich frage mich … ob ich ihn wohl mithilfe des Gedankenabschöpfens finden könnte?
Es war einen Versuch wert. Sie legte sich aufs Bett, schloss die Augen und ließ sich langsam in eine Traumtrance sinken. Als sie glaubte, so weit zu sein, sandte sie ihren Geist in die Richtung aus, in der das Offene Dorf lag.
Einige Zeit später fand sie den Geist dreier Siyee, die nach einer erfolgreichen Jagd auf dem Rückweg in ihr Dorf waren. Danach fand sie ein Dorf und hielt inne, um den Geist einer Siyee abzuschöpfen, die gerade eine komplizierte Mahlzeit zubereitete. Der Hunger der Frau machte Auraya bewusst, dass auch ihr der Magen knurrte.