Sie entdeckte einige weitere Siyee und war erleichtert, als sie durch die Augen eines Mannes das Offene Dorf erkannte. Es würde allerdings nicht leicht sein, in der Vielzahl der dort lebenden Leute Unfug zu finden. Irgendwann sah sie durch die Augen eines Kindes ihre eigene Laube, und das war der Fingerzeig, den sie gebraucht hatte, um den Veez aufzuspüren.
Sie streckte ihren Geist nach der Laube aus und konzentrierte sich, in der festen Erwartung, dass die Gedanken eines so winzigen Geschöpfes wie Unfug irgendwie kleiner und schwächer sein würden. Sie spürte den Geist eines Tieres, das sich irgendeiner Aufgabe mit großer Eindringlichkeit widmete. Fasziniert beobachtete sie, wie der Veez Magie in sich hineinzog - ebenso mühelos, wie er seine Lunge mit Atem füllte - und sie benutzte, um irgendeinen Mechanismus zu bewegen, dann spürte sie die gierige Befriedigung des Tieres, als es Erfolg hatte. Der Veez griff nach etwas Essbarem, zerrte es aus dem Behälter, in dem es verschlossen gewesen war, und begann zu fressen.
Wie es aussieht, hat Unfug gerade etwas aus einem Essensbehälter geräubert, dachte sie erheitert. Ich habe ihn noch nie Magie benutzen sehen …
Dann erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Etwas viel Näheres. Eine Stimme sprach, und Auraya wurde schwindlig, als weit stärkere Geister ihre Sinne überwältigten und sie mit einem Ruck auf einen Ort irgendwo im Umkreis der Höhle richteten.
… schicke einen der Siyee-Wächter mit dem Befehl zu ihr, mich im Tempel zu treffen. Wenn Chaia recht hat, wird sie es nicht wagen, uns den Gehorsam zu versagen.
Und wenn sie es doch tut?
Dann werden wir alle wissen, dass Chaia sich irrt.
Die erste Sprecherin war Huan, das erkannte Auraya sofort. Sie brauchte ein wenig länger, um zu begreifen, mit wem sie sich unterhielt. Als er ein zweites Mal sprach, wurde ihr klar, dass die Stimme Saru gehörte.
Und er kann uns nicht daran hindern, sie töten zu lassen.
Auraya spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Sprachen sie von ihr?
Er würde es trotzdem versuchen, sagte Huan.
Ja. Warum, glaubst du, will er sie am Leben erhalten?
Begierde. Sie ist eine von seinen kleinen Launen.
Wenn es so wäre, würde er sich nichts dabei denken, sie fortzuwerfen, wie er die anderen fortgeworfen hat. Dies ist etwas anderes.
Auf die schlimmstmögliche Weise. Sie ist keine hübsche Puppe, mit der er spielen will, wie die anderen Mädchen. Sie ist zu mächtig. Huans Stimme nahm einen düsteren Klang an. Er muss Pläne mit ihr haben.
Zu mächtig, um sie zu töten?
Noch nicht. Nicht solange sie keine Ahnung von ihrer wahren Stärke hat. Was genau der Grund ist, warum es mir nicht gefällt, dass sie in dem Leeren Raum verschwunden ist, um diese Frau zu behandeln. Wenn mein Verdacht korrekt ist, ist diese Frau keine bloße Heilerin. Auraya könnte all das lernen, was sie nicht lernen soll.
Du hast sie dazu ermutigt, indem du ihr gestattet hast, die magische Heilung zu erlernen.
Das habe ich nur getan, um die anderen davon zu überzeugen, dass sie zu gefährlich ist.
Mich hast du überzeugt. Was glaubst du, könnte Lore und Yranna umstimmen?
Huan schwieg einen Moment lang.
Die Bestätigung meines Verdachts. Wenn sie aus diesem Leeren Raum kommt und Dinge weiß, die sie nicht wissen sollte, wird nur noch Chaia gegen ihren Tod protestieren.
Dann wird er endlich überstimmt sein.
Ja.
Und wenn sie herauskommt und nichts weiß?
Dann werden wir eine andere Möglichkeit finden, Lore und Yranna auf unsere Seite zu ziehen. Irgendwann wird Auraya uns abermals trotzen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Und ihre Henker?
Mal sehen …
Mit schwindelerregender Geschwindigkeit verschwanden die Geister der beiden Götter aus Aurayas Sinnen. Der kurze Kontakt mit ihnen hatte sie benommen gemacht, und sie schüttelte die Traumtrance eilends ab. Sie blieb noch eine Weile auf dem Bett liegen und hörte im Geiste noch einmal die Worte der Götter …
Huan will meinen Tod, dachte Auraya. Das wollte sie schon, bevor ich mich geweigert habe, Mirar zu töten! Sie ist so entschlossen, mich zu töten, dass sie zu diesem Zweck sogar die anderen Götter manipulieren wird.
Eine Woge der Übelkeit schlug über ihr zusammen. Es spielt keine Rolle, dass Chaia ihr widerspricht. Die anderen werden ihn am Ende überstimmen. Sie richtete sich auf und starrte auf die Wand der Höhle.
Das soeben Gehörte ließ die Gedanken in ihrem Kopf durcheinanderwirbeln. Es würde nicht lange dauern, bis die anderen Götter Chaia überstimmt hatten, denn sobald sie den Leeren Raum verließ, würden sie wissen, dass sie gelernt hatte, ihren Geist zu beschirmen, ob sie es nun wirklich tat oder nicht. Es spielte keine Rolle, dass sie nie die Absicht gehabt hatte, ihren Geist vor ihnen zu verbergen. Allein die Tatsache, dass sie etwas Derartiges gelernt hatte, verurteilte sie.
Warum? Neugier und Verbitterung stiegen in ihr auf. Weil ich zu mächtig bin? Wie mächtig bin ich eigentlich?
Mächtig genug, um den Göttern Angst zu machen.
Ein Schauder der Erregung überlief sie, doch das Gefühl verblasste schnell wieder. Ich mag mächtig genug sein, um ihnen Kopfzerbrechen zu bereiten, aber ich bezweifle, dass ich mächtig genug bin, um zu überleben, wenn sie beschließen, dass ich sterben muss.
Nur dass Mirar und Jade überlebt hatten. Wenn die beiden es konnten, dann konnte sie es auch.
Sie stand auf, ging im Leeren Raum auf und ab und dachte über ihre Situation nach. Ich habe zwei Möglichkeiten, befand sie schließlich. Entweder, ich unterwerfe mich dem Urteil der Götter und erlaube ihnen, mich zu töten, oder ich widersetze mich ihnen. Ich bezweifle, dass Huan oder die anderen meine Seele aufnehmen würden, wenn ich sterbe, aber Chaia wird es tun. Würde er meine Seele auch dann aufnehmen, wenn ich mich den anderen Göttern widersetzte und dabei scheiterte? Gewiss würde er nicht zulassen, dass meine Seele einfach erlischt. Wie viel Aufbegehren meinerseits würde er mir verzeihen?
Konnte sie gegen Huan und die anderen Götter kämpfen, ohne gleichzeitig gegen Chaia zu kämpfen?
Ich will Chaia nicht trotzen, dachte sie. Dann muss ich diese Entscheidung in seine Hände geben. Ich werde gegen die anderen kämpfen oder mich mit dem Tod abfinden, je nachdem, was sein Wille ist.
Die Entscheidung brachte Erleichterung, konnte die Angst aber nicht ganz auslöschen. Konnte sie sich wirklich mit einer Hinrichtung abfinden, wenn Chaia es so wollte? Er wird es nicht wollen. Und diese Überlegung warf eine neue Frage auf. Wer waren die Henker, von denen Saru und Huan gesprochen hatten?
Die Antwort war schmerzhaft augenfällig: die Weißen.
Ein Geräusch unterbrach sie in ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah Jade mit zwei Girri in die Höhle kommen. Die andere Frau hob die Vögel hoch.
»Wir werden heute Abend gut essen«, sagte sie.
Auraya brachte ein Lächeln zustande. Sie hatte keinen Hunger mehr. Ihr Magen hatte sich wie zu einer Faust zusammengekrampft. Jade warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Du siehst so aus, als hättest du gerade schlechte Nachrichten bekommen.«