»Manchmal hilft es, die Menschen daran zu erinnern, dass ihnen keine Gefahr droht. Eine kleine diesbezügliche Beruhigung ab und zu kann nie schaden.«
Ihre sorgenvolle Miene glättete sich, und sie wirkte nachdenklich. »Wird es nicht den Anschein haben, als erwarteten wir, dass die Traumweber sich gegen uns wenden werden, wenn wir erklären, dass wir dagegen gewappnet sind?«
»Mag sein. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass sie Traumwebern gegenüber argwöhnischer werden. Ich hätte möglicherweise vorgeschlagen, dass du die Menschen zu überzeugen versuchst, dass Mirar die Traumweber nicht beeinflussen kann oder wird, aber ich fürchte, das wäre töricht. Ich gehe davon aus, dass Mirar tatsächlich wieder die Kontrolle über seine Leute übernehmen wird.«
Ella zog die Brauen zusammen. »Er wird nicht lange genug leben.«
Ihre Zuversicht war ebenso tröstlich wie beunruhigend. »Ich freue mich, das zu hören.« Er hielt inne. »Und vielleicht ist es genau das, was die Menschen hören müssen … Es sei denn, es besteht die Gefahr, dass seine Hinrichtung abermals scheitern wird.«
Sie sah ihn an, und ihre Augen wirkten dunkler als sonst. »Das wird nicht passieren. Es sei denn, er könnte seinen Körper aus Asche neu entstehen lassen.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber wir müssen ihn zuerst finden, daher sprechen wir lieber nicht jetzt schon davon, ihn zu töten.«
8
Draußen vor der Höhle waren die Baumwipfel in die letzten Strahlen der Sonne getaucht. Emerahl lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand, weit genug vom Wasserfall entfernt, dass ihre Kleider nicht von der Gischt durchnässt wurden.
An ebendieser Stelle hatten sie und Mirar einst Rast gemacht und über ihre Zukunft gesprochen. Damals war sie voller Optimismus gewesen, was die Suche nach anderen Unsterblichen betraf. Mirar hatte damit gerungen, sich eingestehen zu müssen, dass ein Teil von ihm Leiard war. Der Teil, der Auraya liebte.
Nur gut, dass er damals nicht wusste, dass sie seine Liebe nicht erwidert, dachte Emerahl. Das hätte es ihm viel schwerer gemacht, das Bruchstück seiner Persönlichkeit zu akzeptieren, das er erschaffen hatte. Warum hätte er auch Leiard akzeptieren sollen, wenn das bedeutete, dass ihm das Herz brechen würde?
Er war jetzt wieder eine einzige Persönlichkeit. Stärker als zuvor. Er konnte mit der schlechten Nachricht, dass Chaia Aurayas Geliebter gewesen war, fertigwerden. Zumindest hoffte sie das. Es bestand eine geringe Gefahr, dass er abermals eine Persönlichkeitsspaltung durchmachte.
Diese Möglichkeit hatte Auraya wahrscheinlich nicht erwogen. Oder vielleicht hatte sie es doch getan. Vielleicht war das der Grund, warum es ihr widerstrebte, Mirar davon zu erzählen.
Emerahl seufzte. Es war ihr ernst gewesen mit dem, was sie zu Auraya gesagt hatte. Wäre sie in der gleichen Situation gewesen, hätte Emerahl wahrscheinlich genauso für Mirar empfunden. Sie würde allen verbliebenen Gefühlen für den Mann, der am Ende nicht derjenige war, für den sie ihn gehalten hatte, misstrauen. Allein die Aussicht, diesem Mann zu begegnen, würde sie argwöhnisch machen. Was würde sich sonst noch als unwahr erweisen?
Während Leiard ein Teil von Mirar war, würde er doch nie wieder als der Mann existieren, den Auraya gekannt hatte. Sie trauert um Leiard. Für sie ist er tot. Und sie fühlt sich überlistet und betrogen, weil sie sich in eine Illusion verliebt hat. Warum habe ich das nicht schon früher begriffen?
Das Ganze hatte sich zu einem gewaltigen Schlamassel entwickelt, der weder Auraya noch Mirar guttat. Selbst ohne all diese Komplikationen waren die Chancen, dass Auraya und Mirar gemeinsam hätten glücklich sein können, nicht groß. Auraya war den Göttern noch immer treu ergeben (und obwohl Emerahl nicht viel davon hielt, musste sie doch einräumen, dass die junge Frau das Recht hatte, den Göttern zu folgen, wenn das ihr Wille war). Mirar hasste sie, und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Je eher die beiden von der Quelle ihres Unglücks befreit wurden, desto besser. Es würde Mirar sehr verletzen, aber er war schon viele Male über eine unerwiderte Liebe hinweggekommen. Auraya würde sich leichter von ihrer Trauer um Leiard erholen, wenn Mirar nicht in ihrer Nähe war und sie daran erinnerte, was sie verloren hatte.
Emerahl seufzte. Ich hatte gehofft, dass Auraya etwas für Mirar empfindet, so dass wir Unsterblichen uns ein wenig sicherer hätten fühlen können. Sie kicherte. Wenn ich ihren Hass auf mich lenke, wird uns das gewiss nicht weiterbringen. Ich sollte mitfühlender sein.
Sie nahm eine bequemere Position ein. Dann schloss sie die Augen und ließ sich dem Schlaf entgegensinken. Der Drang, sich einem Zustand vollkommener Bewusstlosigkeit zu überlassen, war stark, aber sie widerstand.
Mirar, rief sie.
Es kam keine Antwort. Dort, wo er war, war jetzt früher Abend, und er lag wahrscheinlich noch nicht im Bett. Sie wandte ihre Gedanken dem Geist anderer Menschen zu.
Tamun. Surim.
Ja, Emerahl?
Manchmal sprachen die Zwillinge während einer Traumvernetzung mit einer Stimme.
Es war beunruhigend. Die beiden waren so unterschiedlich in ihrem Wesen. Der Eindruck, den sie vermittelten, wenn sie auf solche Weise eins waren, spiegelte eine Persönlichkeit, die komplizierter war als die eines gewöhnlichen Menschen. Sie waren dann etwas Größeres als ein bloßer Mensch. Etwas Unmenschliches.
In Zeiten wie dieser wusste sie, warum die beiden zu ihrer Zeit so verehrt wurden.
Wie ist es euch ergangen?
So gut wie immer, erwiderte Tamun. Surim schmachtet wieder einmal ein Mädchen aus den Sümpfen an, und ich bemühe mich, mich damit abzufinden.
Tamun erwartet von mir, dass ich Essen beschaffe und Materialien für ihre Webarbeiten, aber sie erlaubt mir nicht, dass ich im Zuge dieser Arbeit auch ein wenig Vergnügen finde, beklagte sich Surim. Es ist nicht gerecht und …
Wie macht sich Auraya?, wollte Tamun wissen.
Tamuns plötzlicher Themenwechsel erheiterte Emerahl.
Sie hat den Schild um ihre Gedanken nur ein- oder zweimal sinken lassen, seit sie herausgefunden hat, wie sie ihn bilden muss.
Mirar hat auch gesagt, dass sie schnell lerne, erwiderte Tamun. Vielleicht liegt das an ihrer Jugend. Sie hatte noch keine Zeit, eingefahrene Denkweisen auszubilden.
Mag sein, stimmte Surim zu.
Gestern Nacht ist etwas geschehen, erzählte Emerahl den beiden. Während sie Gedanken abschöpfte, hat sie etwas gesehen, das sie beunruhigte.
Sie hat dir nicht erzählt, was es war?
Nein. Ich glaube, ich sollte nicht mehr allzu lange hierbleiben.
Aber du hast sie noch nicht in die Geheimnisse der Unsterblichkeit eingeweiht.
Ich werde es ihr anbieten, allerdings bin ich mir sicher, dass sie ablehnen wird - und wenn sie so klug ist, wie Mirar behauptet, wird sie selbst dahinterkommen.
Du hast recht, sagte Tamun, aber das war der Grund, warum Mirar dich dorthin geschickt hat. Er wird vielleicht enttäuscht sein.
Damit wird er leben müssen. Ich werde sie nicht zwingen zu lernen, wenn sie es nicht will.
Wirst du sie lehren, ihr Alter zu verändern, wenn sie es will?
Mirar meint, das sei meine angeborene Gabe und kein anderer könne sie erlernen.