Выбрать главу

Mirar könnte sich irren, was angeborene Gaben betrifft. Seine Gabe ist das magische Heilen, und doch hat er sie auch andere gelehrt.

Aber niemand beherrscht diese Gabe so gut wie er. Ich hätte nicht überleben können, wäre ich so wie er zerschmettert worden.

Das weißt du nicht. Aber wenn eine angeborene Gabe etwas ist, das ein Unsterblicher besser beherrscht als andere, wird Auraya vielleicht in der Lage sein, ihr Alter zu verändern, auch wenn sie es nicht so gut macht wie du. Vielleicht kannst du lernen zu fliegen, aber nicht so gut wie sie.

Das Fliegen ist keine Gabe, die man nur mit mäßigem Erfolg meistern darf. Ein Scheitern wäre schmerzhaft oder tödlich. Ich werde wohl kaum meine Suche nach der Schriftrolle wiederaufnehmen können, wenn ich in Si festsitze und warten muss, bis etliche Knochenbrüche heilen.

Das ist wahr. Was glaubst du, was Auraya tun wird, wenn du fort bist?

Sie wird ins Offene Dorf zurückkehren. So weitermachen, als sei nichts geschehen.

Ob sie das tun kann, werden wohl die Götter entscheiden, sagte Surim mit plötzlichem Ernst. Es wird ihnen nicht leichtfallen, sie zu töten, aber sie könnten ihr Vertrauen in sie benutzen, um sie in eine Falle zu locken.

Wenn sie scheitern, fuhr Tamun fort, sind wir die Einzigen, an die sie sich um Hilfe wenden kann.

Sie wird eine mächtige Verbündete sein, ergänzte Surim.

Wenn man bedenkt, dass ihr behauptet, die Zukunft lasse sich nicht voraussehen, redet ihr zwei doch gern so, als könntet ihr genau das tun, bemerkte Emerahl.

Für mich gilt das nicht, wandte Tamun ein. Aber wenn Surim sich so dramatisch gebärdet, habe ich immer das Gefühl, ihn unterstützen zu müssen.

Du tust es genauso gern wie ich, beschied Surim seiner Schwester. Mach schon. Gib es zu.

Ich finde keinen Gefallen an unbegründeten Übertreibungen oder theatralischen Gesten, erklärte Tamun. Aber es wäre

Seid ihr euch sicher, dass die Götter sich gegen Auraya wenden werden?, unterbrach Emerahl das Geplänkel der beiden. Ihr habt nicht den geringsten Zweifel daran?

Zweifel gibt es immer, gestand Surim. Die Zukunft lässt sich nicht voraussehen, nur erahnen. Die Götter haben die Angewohnheit, Unsterbliche zu töten, aber es besteht immer die Chance, dass sie sich bei einem ihrer Anhänger mäßigen.

Vor allem wenn es sich bei der betreffenden Person um eine von Chaias Geliebten handelt, warf Emerahl ein.

Eine Exgeliebte, korrigierte Tamun sie.

Ich denke, es ist an der Zeit, dass Mirar davon erfährt, bemerkte Emerahl. Dass er begreift, was er für Auraya bedeutet.

Die Zwillinge schwiegen einen Moment lang.

Ja. Erzähl es ihm. Er ist unter guten Menschen. Sie werden ihm zur Seite stehen, sagte Tamun.

Und einer der Menschen dort ist durchaus willens, ihm Trost zu spenden, wenn er darum bittet, fügte Surim hinzu.

Trost?, dachte Emerahl erheitert. Die Zwillinge schöpften regelmäßig die Gedanken aller Menschen ab, die sich in der Nähe von Emerahl und Mirar aufhielten, stets auf der Hut vor irgendjemandem, der ihnen vielleicht Böses wollte. Emerahl hatte bisher nicht darüber nachgedacht, was den beiden sonst noch alles auffallen könnte. Also hat Mirar eine Bewunderin im Traumweberhaus. Das kommt zu einem günstigen Zeitpunkt, überlegte sie.

Ich werde es ihm heute Nacht sagen, erklärte sie.

Bring es ihm schonend bei, riet ihr Tamun.

Natürlich. Wofür hältst du mich?

Für jemanden, der ihn seit langer Zeit kennt. Du hast ihn gekannt, als er aus einem härteren Holz war. Er ist nicht mehr derselbe wie damals. Vergiss das nicht.

Ich werde daran denken, versicherte ihr Emerahl.

Schön. Gute Nacht. Und reise wohl.

Als der Geist der Zwillinge in Emerahls Bewusstsein verblasste, wandte sie ihre Gedanken ihrem alten Freund zu.

Mirar, rief sie.

Es kam keine Antwort. Sie löste sich weit genug aus der Traumtrance, um ein Auge zu öffnen. Der Himmel war dunkel, aber dort, wo die Sonne untergegangen war, war noch ein schwacher Schimmer zu erkennen. Es war noch zu früh.

Schlaf ein, Mirar, dachte sie. Weißt du nicht, wie unangenehm es ist, wenn man darauf warten muss, jemandem schlechte Neuigkeiten zu überbringen?

Der Speisesaal des Traumweberhauses war an diesem Abend bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Mirar hatte sich als Helfer in der Küche anwerben lassen. Er hatte dem unablässigen Geplauder der Traumweber dort und im Speisesaal gelauscht und die entspannte, sorglose Stimmung des Hauses genossen - und sich darauf konzentriert, mehr von der Sprache der Einheimischen zu lernen.

Seine Fähigkeit, Gefühle aufzufangen, erleichterte es ihm, diese Menschen zu verstehen, aber sie war ebenso ein Hindernis wie ein Segen, wenn es darum ging, die Sprache zu erlernen, die sie benutzten. Manchmal konnte er aufgrund dessen, was er spürte, mehr erraten als aus den eigentlichen Worten, die sie sagten. Er musste sich dazu zwingen, die Worte zu verfolgen und herauszufinden, was sie bedeuteten.

Eine Hilfe war auch der Umstand, dass am Abend zuvor ein anderer Traumweber aus Nordithania angekommen war, der über einige Kenntnis der südlichen Sprachen verfügte. Traumweber Moore war in Dekkar, um Heilmittel zu sammeln oder zu kaufen.

»Die Genrianer hängen der verrückten Idee an, dass Heilmittel dann besonders gut sein müssen, wenn sie exotisch sind und von einem weit entfernten Ort stammen«, hatte er Mirar erzählt. »Sie bezahlen uns eine Menge Geld, das wir dafür nutzen, vollkommen ausreichende einheimische Heilmittel für weniger wohlhabende Patienten zu kaufen. Es gibt viele Heilmittel, die man ausschließlich im Dschungel von Dekkar findet, obwohl es bei meinem letzten Besuch noch mehr davon gab. Diese Leute scheinen entschlossen zu sein, den ganzen Dschungel urbar zu machen.«

Unter den Traumwebern herrschte eine erwartungsvolle Stimmung. Mirar hatte vermutet, dass ein Ritual oder ein Fest stattfinden würde. Nach dem Essen half er, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Als alles fertig war, folgten die Traumweber Tintel einen Flur hinunter und auf einen Balkon. Tintel hatte Mirar diesen Balkon am Morgen nach seiner Ankunft gezeigt. Er war wie ein hölzerner Innenhof, aber über den Boden erhoben. In der Mitte bildeten Topfpflanzen und niedrige Wälle einen großen Kreis, und die vom Kreis ausgesparten Flächen in den Ecken des Gevierts waren zur Anlage kleiner Gärten genutzt worden, die eine gewisse Abgeschiedenheit boten.

In der feuchten Luft hing der Duft von Blumen, und das unablässige Sirren und Zirpen der Insekten war so stark, dass er es beinahe als Vibration wahrnehmen konnte. Mirar hatte sich an die Hitze noch nicht gewöhnt: Sie machte ihn tagsüber schläfrig und raubte ihm in der Nacht die Ruhe. Die einheimischen Traumweber waren ebenfalls davon betroffen, wenn auch nicht so sehr wie er.

Sie bildeten einen Kreis. Als er die Vorbereitungen zu einer Vernetzungszeremonie erkannte, erwog er noch einmal die Möglichkeit, dass sein Gedankenschirm es ihm vielleicht gestatten würde, an einer Vernetzung teilzunehmen, ohne etwas von sich selbst preiszugeben. Er würde es erst wissen, wenn er es ausprobiert hatte, aber wenn er scheiterte, würde seine Identität vielleicht offenbar werden.

Die Traumweber hielten sich an den Händen und verneigten sich. Ein Stich der Frustration und der Sehnsucht durchzuckte Mirar. Abgesehen von der Vernetzung, an der er in Somrey teilgenommen hatte, war viel Zeit vergangen, seit er das letzte Mal das Gefühl der Zusammengehörigkeit erlebt hatte, das eine Vernetzung mit sich bringen konnte.