Offenkundig hatte er viele Frauen gekannt. Eine andere Erklärung gab es nicht. Wer hätte gedacht, dass dieser stille, zurückhaltende Traumweber eine solche Vergangenheit hatte?
Sie schaute zu ihm hinüber. Er blickte wieder aus dem Fenster, und auf seinem Gesicht lag ein geistesabwesender Ausdruck. Jetzt sah er alt und traurig aus. Manchmal wirkte er ein wenig verloren, aber das war verständlich. Er war weit fort von zu Hause.
Hatte er irgendwann einmal erklärt, warum er hier war? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Fest stand, dass ihn etwas Rätselhaftes umgab. Aber für sie, die ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte, schien jeder Fremde aufregend und rätselhaft zu sein.
Er ist mir gleichzeitig seltsam vertraut. Wie ein Freund, den ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen habe. Er hat irgendetwas an sich …
Als sie ihr Traumweberwams über ihre Tunika zog, sah sie wieder zu ihm hinüber. »Soll ich heute Nacht herkommen?«
Er lächelte. »Lass uns abwarten, wie wir uns heute Abend fühlen. Vielleicht willst du lieber den verlorenen Schlaf nachholen.«
»Unwahrscheinlich.« Augenzwinkernd wandte sie sich ab und ging zur Tür. Als sie sich noch einmal umdrehte, bevor sie die Tür schloss, blickte er wieder aus dem Fenster, und ein schwaches Lächeln lag auf seinen Zügen. Ein seltsames, geheimnistuerisches Lächeln.
Als sie leise vor sich hin summend in ihr Zimmer ging, kam sie an Nirnel und Teiwen vorbei, einem jungen Traumweberpaar. Beide betrachteten ihre zerdrückten Kleider, und sie musterte sie mit einem selbstgefälligen Lächeln.
»Dann hat der neue Traumweber also endlich nachgegeben, wie?«, fragte Nirnel.
»Das hat aber länger gedauert als sonst«, bemerkte Teiwen. »Du lässt nach, Dardel.«
»Du hast ganz recht«, erwiderte sie. »Es hat länger gedauert als sonst. Genau genommen hat es die ganze Nacht gedauert.«
Die beiden verdrehten die Augen. Dardel ging kichernd weiter. Wilar entsprach genau dem Bild, das sie immer von Mirar gehabt hatte. Kenntnisreich, mit mächtigen Gaben gesegnet (sie wusste, dass das auf Wilar zutraf - sie hatte Tintels Geschichten gehört), nicht zu jung, nicht zu alt und ein guter Liebhaber. Alles, was sie überhaupt zu den Traumwebern hingezogen hatte.
Auf halbem Weg zu ihrem Zimmer verlangsamte sie ihren Schritt, als ihr plötzlich eine Idee kam.
Was ist, wenn er Mirar ist? Die jüngeren Traumweber haben gesagt, Mirar sei in den Süden gekommen. Was, wenn es so wäre und er hier ist und sich als Reisender ausgibt?
Bei dem Gedanken beschleunigte sich ihr Puls. Selbst wenn es nicht wahr war, was konnte es schaden, sich eine kleine Phantasie zu gönnen?
Bei formellen Essenseinladungen der Stimmen gab es immer eine unterschwellige Anspannung, die niemals nachließ, obwohl ihr Gast, der sennonische Botschafter und Neffe des sennonischen Kaisers, es nicht bemerkt zu haben schien. Reivan nahm noch ein Stück kandierte Gewürzwurzel und kaute langsam, während sie dem müßigen Geplauder lauschte. Genza gab ein witziges Gerücht zum Besten, das in der Stadt die Runde machte, und ihr Gefährte, Vilvan, bewies gelegentlich seinen trockenen Humor.
Wenn die anderen lachten, lächelte Imenja nur. Falls dem Botschafter aufgefallen war, dass sie und Nekaun nicht ein einziges Wort gewechselt hatten, so ließ er sich nichts davon anmerken. Imenja nahm gelegentlich an Gesprächen teil, aber Reivan wusste, dass ihre Herrin das nur tat, um zu beweisen, dass sie zuhörte. Sie war der Inbegriff eines höflichen Gastes, obwohl sie sich eigentlich wie eine Gastgeberin hätte benehmen sollen. Oder wie eine Matriarchin. Oder zumindest wie jemand, der ein Wort mitzureden hatte.
Nekaun lachte über das Ende der Geschichte, und beim Klang seiner Stimme lief Reivan ein Schauer über den Rücken. Sie zwang sich entschlossen, nicht darüber nachzudenken, warum das so war. Stattdessen griff sie nach ihrem Glas und trank das Wasser aus.
Es ist schon spät, überlegte sie. Und es sieht nicht so aus, als würden wir bald aufbrechen. Manchmal kommen mir diese Essenseinladungen so vor, als würden sie nie ein Ende finden.
Plötzlich stand Nekaun auf. »Es ist schon spät«, sagte er, »und unser Gast hat eine weite Reise hinter sich. Er muss müde sein, und ich weiß, dass wir«, er sah zuerst Imenja an, dann die anderen Stimmen, »morgen viel zu tun haben. Wir sollten uns für die Nacht zurückziehen.«
Ist das Erleichterung auf Imenjas Gesicht?, fragte sich Reivan. Sie rückte ihren Stuhl zurecht und stand auf, dann wartete sie, bis sie an die Reihe kam, dem Botschafter eine gute Nacht zu wünschen. Als der junge Mann gegangen war, folgte Reivan Imenja aus dem Raum.
»Brauchst du heute Abend noch etwas von mir?«, fragte sie.
Imenja sah Reivan an und lächelte, und diesmal war es ein warmes, aufrichtiges Lächeln.
»Nein. Es gibt da nur noch eine Kleinigkeit, um die ich mich kümmern muss, aber dafür werde ich dich nicht brauchen. Geh zu Bett, Reivan. Du siehst müde aus.«
Reivan machte das Zeichen des Sterns. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Reivan drehte sich um und ging in ihr Quartier. Die Wärme der vergangenen Nächte hatte ihren Schlaf rastlos gemacht. Obwohl sie es kaum erwarten konnte, ins Bett zu kommen, bezweifelte sie, dass sie heute Nacht besser ruhen würde.
Ihre Zweifel erwiesen sich als begründet. Sobald sie im Bett lag, wusste sie, dass der Schlaf weder bald noch leicht kommen würde. Seufzend ging sie im Geiste noch einmal die Arbeit des Tages durch und vergegenwärtigte sich, welche Aufgaben am Morgen auf sie warteten.
Dann rief jemand ihren Namen.
Es war eine Männerstimme. Sie war kaum lauter als ein Flüstern und kam vom Balkon. Sie wusste sofort, wer es war.
Ich sollte es ignorieren, dachte sie. Wenn ich das tue, wird er wieder gehen.
Aber sie wollte nicht, dass er ging. Außerdem war er die Erste Stimme. Man ignorierte den Anführer der Pentadrianer und den höchsten Diener der Götter nicht.
Also stand sie auf, ging auf den Balkon und blickte hinab. In der Dunkelheit darunter stand, kaum sichtbar, eine Gestalt.
Nekaun.
»Guten Abend, Reivan.«
»Erste Stimme.«
»Förmlichkeiten sind jetzt nicht notwendig.«
»Nein?«
»Nein. Es ist niemand hier, außer uns beiden. Ich würde es vorziehen, wenn du mich Nekaun nennst, wenn wir unter uns sind. Würdest du das für mich tun?«
»Wenn du es so wünschst.«
»Ich wünsche es.«
»Dann werde ich es tun, Nekaun.«
Er neigte den Kopf zur Seite. »Du bist so schön, Reivan.«
Ihr Herz tat etwas, von dem sie wusste, dass es körperlich unmöglich war. Sie stellte fest, dass sie unwillkürlich eine Hand auf die Brust gepresst hatte.
»Findest du mich attraktiv, Reivan?«
Was für eine lächerliche Frage, dachte sie. Jeder, der so gut aussieht, weiß, dass andere ihn attraktiv finden, ganz gleich, ob er Gedanken lesen kann oder nicht. Und er kann Gedanken lesen.
Warum wollte er also, dass sie es aussprach?
»Manchmal und wenn es von der richtigen Person kommt, wirkt es realer, so etwas ausgesprochen zu hören.« Er seufzte. »Irgendwie bedeutet es mehr.«
Sie spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. »Ja, Nekaun. Ich finde dich attraktiv. Zu attraktiv.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum ›zu‹ attraktiv?«
»Es ist… es ist peinlich. Ich bin Imenjas Gefährtin.«
»Das bist du. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht … Freunde sein können.«
»Nein. Aber es ist trotzdem peinlich.«
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Es ist nichts Unrechtes daran, wenn wir zusammen sind. Als Freunde. Es wäre nicht einmal Unrecht, wenn wir mehr als Freunde wären.«
Mehr als Freunde. Sie stellte fest, dass sie nicht sprechen konnte.