Выбрать главу

11

Wenn Reivans Gehilfe, Kikarn, ihr Verhalten an diesem Morgen verwirrend fand, so ließ er sich nichts davon anmerken. Sie hatte ihn gebeten, alle Dinge aufzulisten, um die sie sich kümmern konnte, bis er ihr eine Angelegenheit präsentierte, die sie für den ganzen Tag vom Sanktuarium wegführen würde. Die Gelassenheit, mit der er diese Abweichung von ihrem normalen Tagesablauf aufnahm, war beinahe beängstigend gewesen.

Vielleicht versteht er einfach, dass man ab und zu aus dem Sanktuarium heraus muss, um nicht den Verstand zu verlieren, überlegte sie.

Es war Reivan gelungen, sich mit ihrer erwählten Aufgabe fast den ganzen Tag lang abzulenken. Nur gelegentlich wanderten ihre Gedanken in die vergangene Nacht zurück, und dann erschien es ihr eher ein Traum zu sein denn eine Erinnerung. Diese Augenblicke waren angenehm, wurden ihr aber jedes Mal verdorben, wenn sie sich darum sorgte, was Imenja denken würde. Oder sagen. Oder tun.

Sie könnte mich zum Beispiel entlassen, dachte Reivan. Oder mich als unbefähigte Götterdienerin an einen entlegenen Ort schicken, wo ich den Rest meiner Tage damit zubringen werde, Schriftrollen zu übersetzen. Nein, das Übersetzen von Schriftrollen wäre zu vergnüglich. Sie würde mir wohl eher irgendeine unangenehme niedere Arbeit oder eine langweilige Aufgabe in der Verwaltung zuweisen.

Es war kindisch und überdies nutzlos gewesen, dass sie Imenja den ganzen Tag aus dem Weg gegangen war, und es hatte ihr nur einige zusätzliche, angsterfüllte Stunden bis zu der unausweichlichen Konfrontation verschafft. Als sie ihre Arbeit beendet hatte und die Schatten begannen, die Stadt einzuhüllen, schleppte sie sich zurück ins Sanktuarium.

Alles war still, als sie die Treppe erreichte, über die sie zu ihren Räumen gelangen würde. Sie hielt inne und blickte durch einen Bogengang in den dahinterliegenden Innenhof. Das Zwielicht hatte den Hof in einen bläulichen Schein getaucht, nur an einigen Stellen warfen Lampen orangefarbene Seen auf das Pflaster.

Wird Nekaun heute Nacht wieder zu mir kommen?, fragte sie sich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ich hoffe es, aber … ich bin müde. Sie trat in den Bogengang und lehnte sich an die Wand. Es war so friedlich hier. Ganz allmählich lösten sich die Knoten der Anspannung in ihr.

Vielleicht wird es Imenja ja nichts ausmachen, überlegte sie. Vielleicht wird es sie und Nekaun sogar veranlassen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Ich könnte diejenige sein, die unbeabsichtigterweise Frieden zwischen der Ersten und der Zweiten Stimme stiftet.

Sie schnaubte leise.

Höchst unwahrscheinlich! Was weiß ich schon davon, wie man Meinungsverschiedenheiten beilegt oder Frieden stiftet? Es war schon schwer genug, die Denker dazu zu bringen, meine bloße Existenz wahrzunehmen, und sie haben mich bei der ersten Gelegenheit hinausgeworfen. Die Reaktion der Götterdiener auf mich, als ich seinerzeit hierherkam, ließ keinen Zweifel daran, dass sie fanden, ich würde nicht zu ihnen gehören. Ich habe noch immer nicht einmal Freunde, welche Chance habe ich also, die Kluft zwischen mir und den anderen zu überwinden?

»Eine Freundin hast du«, erklang eine vertraute Stimme hinter Reivan.

Sie drehte sich um und sah Imenja entschuldigend an.

»Zweite Stimme. Ich … äh … ich … ich entschuldige mich dafür, dass …«

Imenja legte zwei Finger auf die Lippen, dann bedeutete sie Reivan, ihr in den Innenhof zu folgen. Sie betrachtete einen der Teiche. Das Wasser kräuselte sich, dann bildete sich eine Fontäne, und Tropfen fielen durch die Luft. Das Geräusch hallte im Hof wider. Imenja setzte sich auf eine der Bänke in der Nähe.

»So. Ein klein wenig Ungestörtheit. Ich würde dir allerdings davon abraten, die Stimme zu erheben.«

Reivan nickte, und Imenja klopfte auf die Bank.

»Setz dich. Wie du weißt, müssen wir reden.« Als Reivan gehorchte, lächelte Imenja. »Wofür willst du dich entschuldigen?«

»Dafür … dafür, dass ich mich vor dir versteckt habe.«

»Es war albern von dir, aber ich sehe, dass du das weißt. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, weil du Nekaun in dein Bett gelassen hast, Reivan. Es ist kaum etwas, wofür man sich schämen müsste.«

»Ich weiß, aber…«

»Aber?«

»Du und er…«

Imenja rümpfte die Nase. »Wir waren in letzter Zeit nur selten einer Meinung.« Sie hob die Schultern. »Das ist eine Angelegenheit zwischen uns beiden und sollte dich nicht daran hindern, dein Vergnügen zu suchen, wann immer du es finden kannst. Vergnügen ist etwas, das einem Menschen nicht so oft begegnet, wie es das tun sollte.«

»Da kommt noch ein ›Aber‹«, sprudelte Reivan hervor. »Ich kann es in deiner Stimme hören.«

Imenja lachte leise. »Ja, es gibt ein ›Aber‹.« Sie holte tief Luft, und alle Heiterkeit verschwand aus ihren Zügen. »Es ist möglich, dass Nekaun dir tatsächlich Zuneigung entgegenbringt. Ich möchte in diesem Punkt deine Hoffnungen nicht zunichtemachen. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass er dich lediglich benutzt.«

»Nun, es ist nicht so, als könnten wir heiraten. Das erwarte ich nicht.«

Imenja schüttelte den Kopf. »Du musst politisch denken, Reivan. Du bist mir nicht deshalb den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, weil du dachtest, ich könnte es missbilligen, dass du ein wenig Spaß hast.«

»Du glaubst, er benutzt mich, um dich zu kränken?«

»Ich muss es als eine Möglichkeit betrachten. Und du auch.«

Reivan blickte auf das Pflaster hinab. Wenn Nekaun dachte, Imenja hätte Einwände dagegen, dass er das Bett mit ihrer Gefährtin teilte, wäre dies eine Möglichkeit, sie zu treffen. Es war schäbig und niederträchtig, und es hatte keinen anderen Sinn, als jemanden zu verärgern, den man eigentlich als einen seiner engsten Verbündeten betrachten sollte.

»Gewiss nicht. Er würde nichts damit gewinnen.«

Imenja seufzte. »Nichts, als mich ein klein wenig mehr zu schwächen.«

Als Reivan die Zweite Stimme betrachtete, sah sie eine Resignation in den Zügen der Frau, die ihr dort noch nie aufgefallen war. Ein Stich der Sorge durchzuckte sie. Was war geschehen, dass ihre Herrin Nekaun solches Misstrauen entgegenbrachte? Wie konnte eine mächtige Frau so niedergeschlagen wirken?

Imenja richtete sich auf und wandte sich zu Reivan um. »Wenn seine Absichten boshafter Natur sein sollten, wird er feststellen, dass ich aus härterem Holz bin, als er erwartet«, sagte sie. »Du bist es, um die ich mir Sorgen mache, Reivan. Würdest du damit fertigwerden, gedemütigt und manipuliert zu werden? Bist du stark genug, um ein gebrochenes Herz zu ertragen? Falls Nekauns Absichten böse sind, könnte das für dich sehr unerfreulich werden.«

Reivan starrte sie an. »Glaubst du, er könnte so grausam sein?«

Imenja seufzte. »Ob ich glaube, dass er zu niederträchtigen, unmoralischen Taktiken fähig ist? Ja. Ich weiß, dass es so ist. Ob ich glaube, dass er dir wirklich tiefste Zuneigung entgegenbringt?« Sie lächelte und zuckte die Achseln. »Du bist eine attraktive Frau. Nicht schön, aber du hast einen scharfen Verstand und einen guten Sinn für Humor, und beide Dinge sind mehr als nur eine Entschädigung für mangelnde Schönheit. Es gibt vieles an dir, was man lieben kann. Also empfindet er vielleicht wirklich etwas für dich.«

Reivans Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln, und sie versuchte erfolglos, es zu verhindern.

»Ich würde dich niemals einer Chance auf Liebe und Vergnügen berauben«, fuhr Imenja fort. »Aber wenn Schlimmes daraus entsteht, vergiss nicht, dass ich deine Freundin bin. Wenn du das Bedürfnis hast, mit jemandem zu reden, werde ich zuhören. Wenn du das Bedürfnis hast, von ihm fortzukommen, werde ich dich hinschicken, wo immer du hingehen möchtest. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass du zu Schaden kommst, aber ich kann dich nicht vor verletzten Gefühlen retten. Auch du musst stark sein.«