»Das werde ich«, versprach Reivan.
»Gut.«
Imenja stand auf. »Und nun muss ich an einer Versammlung teilnehmen, daher sollte ich langsam aufbrechen.«
»Brauchst du meine Hilfe?«
»Nein. Ich werde morgen mit dir sprechen. Schlaf gut.«
Reivan lächelte. »Du auch.«
Als die Zweite Stimme im Bogengang verschwand, tröpfelte der Springbrunnen langsam aus und erstarb dann ganz. Reivan sog tief die Luft ein, gähnte und ging auf ihre Räume zu, wobei sie sich besser fühlte, als sie es den ganzen Tag getan hatte.
Die Sonne hing direkt über den Bäumen, als schicke sie sich an hineinzutauchen. Auraya blickte zu dem Seil auf. Sie hatte es von dem Felsen zu den Zweigen der Bäume darunter gespannt und dann einen Gleitsitz aus Holz und weiteren Seilen gemacht. Es war eine grobe Nachahmung des Systems, das Mirar benutzt hatte, um von einer Plattform zur nächsten zu gelangen, als sie ihn vor einigen Monaten in dem inmitten von Bäumen gelegenen Dorf der Siyee gefunden hatte. Plötzlich stieg Ärger in ihr auf, und sie ballte die Fäuste.
Was hatte er als Gegenleistung dafür bekommen, dass er den Siyee im Kampf gegen die Seuche geholfen hatte?, dachte sie. Einen Henker. Und jetzt will Huan mir ebenfalls einen Henker schicken. Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus, als sie ihren Ärger beiseiteschob. Während der letzten Tage hatte sie oft über das Gespräch zwischen Huan und Saru nachgegrübelt. Zu oft. Nachts lag sie wach, hin- und hergerissen zwischen Zorn auf die Götter, die sie verraten hatten, und einer nagenden, zermürbenden Furcht, dass einer der Weißen - wahrscheinlich Rian - in die Höhle kommen und sie und Jade töten würde.
»Hier.«
Auraya riss sich aus ihren Gedanken los und nahm den dampfenden Becher Maita von Jade entgegen. Sie nippte daran und stieß einen anerkennenden Seufzer aus, als die heiße Flüssigkeit sie wärmte.
Jade setzte sich neben sie und betrachtete die Schlinge. Sie hatte sie viele Male sicher zu Boden getragen, aber es war ihr noch immer nicht gelungen, ihre Position in der Welt um sie herum zu spüren. Aber schließlich war es auch keine besonders hohe Klippe.
»Wir könnten uns eine höhere Klippe suchen und ein längeres Seil machen«, begann Auraya.
Jade schüttelte den Kopf. »Nein. Ich denke, es ist ziemlich klar, dass ich diese Fähigkeit, die Welt so wahrzunehmen wie du, nicht besitze. Außerdem muss ich mich langsam auf den Weg machen.«
»Du willst einfach aufgeben? Nach nur einem einzigen Tag?«
Die Frau kicherte. »Ja, das will ich. Vielleicht werde ich eines Tages das Missgeschick haben, von einer Klippe zu stürzen. Wenn das passiert, werde ich mich an deine Anweisungen erinnern und es noch einmal versuchen. Für den Augenblick bin ich damit zufrieden, meine Füße fest auf dem Boden zu wissen.«
Auraya lächelte. »Wir könnten es immer noch mit dem Sprung von der Klippe versuchen. Vielleicht funktioniert es ja.«
»Und vielleicht auch nicht.«
»Ich würde dich auffangen.«
»Es ist nicht so, dass ich dir nicht vertrauen würde …«
Auraya zog die Augenbrauen hoch.
»Hm, ja, du hast recht«, gestand Jade. »So weit reicht mein Vertrauen zu dir dann doch nicht. Aber wie dem auch sei, mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass es eine schlechte Idee wäre, von einer Klippe zu springen. Und die Logik sagt mir noch etwas anderes: Wenn ich mich bewegen muss, um zu lernen, ein Gefühl für meine Position in der Welt zu entwickeln, müsste es genauso gut funktionieren, wenn ich mich horizontal bewege statt vertikal. Wenn ich in der Lage wäre, das Fliegen zu erlernen, hätte ich diese Wahrnehmung der Welt, die du beschreibst, inzwischen selbst entdeckt.«
»Du hast wahrscheinlich recht.« Auraya seufzte. »Oder aber ich bin eine miserable Lehrerin. Oder vielleicht hat ja auch Mirar recht. Er beharrt darauf, dass dies meine angeborene Gabe sei.«
Jade sah Auraya forschend an. »Wie oft sprichst du mit ihm?«
»Wir haben uns einige Male bei Traumvernetzungen unterhalten.«
»Du redest mit ihm? Ich dachte, du magst ihn nicht.«
Auraya lächelte. »Ich habe nie gesagt, dass ich ihn nicht mag.«
Jade runzelte die Stirn, dann wandte sie den Blick ab. Alles um sie herum wirkte gedämpft, als müssten die Geschöpfe des Waldes auf die Dunkelheit warten, bevor sie den Mut fanden, die Stimme zu erheben. Auraya lauschte mit ihren anderen Sinnen und achtete auf Dinge, die sie normalerweise nur während des Fliegens wahrnahm: die Magie um sie herum, das Gefühl für ihren Platz innerhalb der Welt. Ihre Sinne waren schärfer geworden, seit sie hierhergekommen war.
Ein schwaches Flüstern oder eine Vibration erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie konzentrierte sich darauf und stellte fest, dass es der Geist eines Siyee war. Jemand flog in ihre Richtung. Es war Tyve.
Ich werde ihnen nur schnell einen kurzen Besuch abstatten, bevor es zu dunkel wird, dachte er.
»Du solltest das wohl besser abnehmen«, bemerkte Jade, die von dem näher kommenden Siyee anscheinend nichts wusste.
Das Seil! Tyve könnte hineinfliegen. Auraya stellte ihren Becher beiseite und sprang auf. Dann zog sie Magie in sich hinein und sandte einen Hitzestrom zu dem Ende des Seils aus, das auf der Klippe befestigt war. Die Fasern brachen in Flammen aus, als die Hitze sich durch sie hindurchfraß. Das Seil fiel zu Boden, und ein Teil davon versank im Fluss.
»Es ist gut zu wissen, dass du mir so gründlich zustimmst«, bemerkte Jade trocken.
»Tyve ist auf dem Weg hierher. Er könnte das Seil übersehen.«
»Tyve? Woher weißt du das?«
»Ich habe seine Gedanken…« Auraya erschrak, als ihr klar wurde, was sie hatte sagen wollen. Sie konzentrierte sich auf Tyves Geist. Zu ihrer Überraschung waren seine Gedanken ganz deutlich. Sie sah Jade an.
»Ich kann wieder Gedanken lesen.«
Die andere Frau starrte sie an, dann blickte sie in die Richtung, aus der sich der Siyee näherte. »Ich kann Erregung und Eile wahrnehmen. Warum kommt er hierher?«
»Nur um nach uns zu sehen.«
Auraya runzelte die Stirn. Ein Gefühl des Argwohns überlagerte Tyves Müdigkeit und seinen Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Dieser Zwiespalt in seinen Gedanken war eigenartig.
Sie ist endlich aufgetaucht. Jetzt werden wir erfahren, was sie dort drin getrieben hat und ob diese Frau mit dem verborgenen Geist diejenige ist, für die ich sie halte…
Der Gedanke endete abrupt, und plötzlich konnte Auraya nur noch Tyves Müdigkeit spüren. Etwas anderes näherte sich ihr. Etwas ohne Gestalt, das mit unglaublicher Geschwindigkeit heranstürmte.
Huan.
Die Göttin schoss an ihr vorbei, und sie war nicht allein. Auraya wich zurück. Der zweite Gott war Saru. Sie waren hinter ihr und suchten …
Wo ist sie? Ich kann sie nicht sehen!
»Was ist los?«, hörte sie Jade fragen.
Ich sollte meinen Gedankenschild fallen lassen, um zu beweisen, dass ich vertrauenswürdig bin, überlegte Auraya. Aber ich vertraue ihnen nicht.
Huan wandte sich in Blitzesschnelle Tyve zu. Der Junge bemerkte nicht, dass der Geist der Göttin sich mit seinem verband. Er konzentrierte sich darauf, langsam zu Boden zu schweben und eine Stelle zum Landen zu suchen.
Ich kann sie nicht sehen! Ihr Geist ist verborgen!
Dann waren die Götter fort; sie hatten sich schneller entfernt, als Auraya ihnen folgen konnte.
Damit ist es entschieden, dachte sie. Sie wissen jetzt Bescheid. Ich frage mich, ob das der Vorwand ist, den Huan benötigt, um mich zu töten.
»Was ist los, Auraya?«, zischte Jade.
Auraya schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie erklären sollte, was soeben geschehen war. »Tyve war einen Moment lang nicht allein. Huan war bei ihm und hat uns durch Tyves Augen beobachtet.«