Emerahl schüttelte den Kopf und seufzte erneut. Es ist ein so großes Risiko. Für die Zwillinge, die sicher verborgen in den Roten Höhlen im fernen Sennon sitzen, und für Mirar in Südithania ist das alles ja gut und schön. Sie braucht es nicht zu beunruhigen, ob Auraya vielleicht ihre Meinung ändern und zu dem Schluss kommen könnte, es sei annehmbar, Unsterbliche auch ohne triftigen Grund zu töten.
Aber die Hilfe der Zwillinge war von unschätzbarem Wert. Jeden Tag und jede Nacht drangen sie in den Geist von Menschen überall auf den Kontinenten ein, schöpften Gedanken ab und gewannen auf diese Weise Kenntnis von den Absichten und den Taten mächtiger Leute. Die beiden hatten diese Fähigkeiten über tausende von Jahren hinweg verfeinert. Sie kannten die Sterblichen so gut, dass sie deren Verhalten mit geradezu unheimlicher Genauigkeit voraussagen konnten.
Mirar hatte immer behauptet, die Wilden - oder die Unsterblichen, wie die Zwillinge sie nannten - besäßen jeder eine angeborene Gabe. Emerahls Gabe war ihre Fähigkeit, ihr Alter zu verändern, Mirars bestand in seiner unübertroffenen Fähigkeit zu heilen. Die Zwillinge verfügten über die Gabe des Gedankenabschöpfens. Die Möwe … sie war sich nicht sicher, worin seine Gabe bestand, aber sie war davon überzeugt, dass sie etwas mit dem Meer zu tun haben musste.
Und Aurayas Gabe, so behauptete Mirar, sei ihre Fähigkeit zu fliegen. Ein Anflug von Interesse beschwichtigte Emerahls Ärger darüber, sich an diesem Ort aufhalten zu müssen. Ich frage mich, ob sie es anderen beibringen kann. Mirar hat mich gelehrt zu heilen, obwohl ich nicht so gut darin bin wie er. Vielleicht werde ich auch nicht so gut fliegen können, wie Auraya es vermag … Genau genommen scheint mir das Fliegen keine Fähigkeit zu sein, bei der man Abstriche am eigenen Können machen darf. Jede Ungeschicklichkeit könnte tödlich sein.
Sie schnaubte. Aber einen Versuch wäre es wert. Irgendeinen Nutzen muss diese ganze Angelegenheit für mich haben. Ich könnte mich eher für die Idee erwärmen, dieses Mädchen zu unterrichten, wenn ich dafür entschädigt würde, dass ich meine Suche nach der Schriftrolle der Götter aufgeschoben habe.
Die Zwillinge hatten ihr erzählt, dass sie Gerüchte über ein Artefakt aufgeschnappt hätten, das den Krieg der Götter aus der Sicht einer lange verstorbenen Göttin beschrieb. Emerahl hatte beschlossen, es zu finden. Ein solcher Bericht enthielt vielleicht Informationen, die den Sterblichen von Nutzen sein könnten. Informationen, die ihnen möglicherweise halfen, der Aufmerksamkeit der Götter zu entgehen oder zu überleben, sollten sie scheitern. Es würde ihnen vielleicht sogar die Möglichkeit geben, gegen die Götter zu kämpfen.
Den Zwillingen zufolge suchten Gelehrte in Südithania schon seit Jahrzehnten nach der Schriftrolle. In letzter Zeit hatten sie zwar Fortschritte gemacht, aber sie besaßen noch immer nicht genug Informationen, um den Verbleib der Schriftrolle enträtseln zu können. Die Zwillinge hatten ihr versichert, dass diese Gelehrten sie nicht allzu bald finden würden. Sie hatte noch Zeit genug, um Auraya zu unterrichten.
Sie ging zu den Krügen und Töpfen hinüber und verschaffte sich einen Überblick über den Vorrat an Heilmitteln und eingelegtem Essen.
Aber zuerst muss ich Nahrung sammeln. Und dann muss ich eine Möglichkeit ersinnen, wie ich Auraya hierherlocken und sie überreden kann, für eine Weile zu bleiben, und das alles, ohne den Argwohn der Götter zu erregen.
Das Schiff stieg ein ums andere Mal auf einer Seite einer Welle empor, verweilte für einen Moment auf deren Kamm und schoss dann auf der anderen Seite hinab. Mirar umklammerte die Reling, halb angstvoll, halb jubilierend. Die Gischt durchnässte immer wieder seine Kleidung, aber er würde sich dennoch nicht unter Deck zurückziehen. Der Wind und das Wasser waren eine willkommene Erleichterung nach der Wärme in der kleinen Passagierkajüte.
Und der alte Mann braucht mich nicht in seiner Nähe, um ihn daran zu erinnern, dass er stirbt, sagte sich Mirar.
Er hatte Rikken in einem der kleinen Häfen entlang der avvenschen Küste behandelt. Zäh und drahtig, wie er war, hatte der alte Kaufmann angesichts von Mirars Einschätzung seines sich verschlechternden Zustands Angst bekommen. Es war nicht die Nachricht, dass er starb, die ihm zusetzte, sondern die Möglichkeit, dass er sein Leben vielleicht nicht in seinem Heimatland aushauchen würde.
Daher hatte er Mirar gebeten, ihn auf seiner letzten Reise heim nach Dekkar zu begleiten, erfüllt von der Hoffnung, dass ein Heiler es ihm ermöglichen würde, noch lebend zurückzukehren. Mirar hatte aus Rastlosigkeit und Neugier zugestimmt. In Avven war ihm keine Feindseligkeit gegenüber Traumwebern begegnet, aber die nimmer endende Eintönigkeit der Städte, die er durchreiste, hatte ihn zu langweilen begonnen. Die Häuser waren aus mit Schlamm überzogenem Stein erbaut wie jene in Sennon, boten jedoch keinerlei Abwechslung, was Farbe oder Stil betraf. Die Menschen trugen, Männer wie Frauen gleichermaßen, triste Kleidung und verbargen die Gesichter hinter Schleiern. Selbst ihre Musik war eintönig.
Ich suche keinen Ärger, sagte er sich und dachte an Emerahls Anschuldigung während ihrer letzten Traumvernetzung. Ich liebe es einfach, zu reisen und neue Dinge zu entdecken. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal die Freiheit hatte, das zu tun. Ein Mitglied der Mannschaft eilte an Mirar vorbei und nickte ihm lächelnd zu, als ihre Blicke sich trafen. Und diese Südländer sind freundliche Menschen, fügte Mirar hinzu und erwiderte den Gruß des Mannes.
Dann blickte er wieder zur Küste hinüber. Am Tag zuvor war eine niedrige Felswand in Sicht gekommen, die inzwischen höher aufragte als die Klippen von Toren. Ihre Silhouette endete an einer Stelle abrupt, und er begann zu begreifen, warum das so war.
Die Zeit verstrich langsam, und einzig vom Kamm einer jeden Welle aus hatte man einen Blick auf die Küste. Mirar wartete geduldig. Dann, zwischen einer Welle und der nächsten, kam das Ende des Kliffs in Sicht.
Die hohe Felswand bog abrupt landeinwärts ab, und zu ihren Füßen lag flaches Waldland mit sanften Küsten. Die Veränderung war wahrhaft außerordentlich: von nacktem Felsen zu üppiger Vegetation. Die Felskette zog sich weiter nach Osten, schlängelte sich in die Ferne und schien dort ihre Umgebung noch höher zu überragen als an der Küste.
Es war ein bemerkenswerter Anblick, denn nun sah es so aus, als sei das Land im Westen wie eine große Platte angehoben und über das Land im Osten geschoben worden.
Ist das natürlich?, fragte sich Mirar. Oder hat irgendein Wesen - sei es ein Gott oder etwas von anderer Art - das Land vor langer Zeit anschwellen lassen?
»Traumweber?«
Mirar hielt nach dem Ursprung der Stimme Ausschau und entdeckte den Seemann in der Nähe. Er hielt ein Seil in einer Hand und deutete mit der anderen auf das bewaldete Land.
»Dekkar«, erklärte der Mann. Mirar nickte, und der Matrose machte sich mit der Schnelligkeit langer Übung wieder an die Arbeit.
Dies war also Rikkens Heimatland. Dekkar, das südlichste aller Länder, war berühmt für seinen Dschungel. Die Felskette stellte eine natürliche Barriere dar und bildete die Grenze zu Avven, dem Nachbarn im Norden. Als folge sie irgendeinem freundlichen Geist dieses Landes, hatte die See sich beruhigt. Die Mannschaft setzte weitere Segel, und ihr Tempo beschleunigte sich.
Während der nächsten Stunden lauschte Mirar dem Gespräch der Männer und versuchte, die Bedeutung ihrer Worte zu erraten. Eine unvertraute Sprache war eine Schwierigkeit, die er seit tausend Jahren nicht mehr hatte überwinden müssen. Die Dialekte Südithanias stammten von einem Sprachzweig ab, der weit älter war als Mirar, und deshalb enthielten sie nur wenige Worte, die auf offenkundige Weise verwandt mit dem auf dem Hauptkontinent gebräuchlichen waren. Bisher hatte er sich einen ausreichenden Grundwortschatz des Avvenschen angeeignet, um zurechtzukommen, und die Traumweber, denen er begegnet war, hatten ihm das meiste von dem beigebracht, was er für seine Arbeit als Heiler benötigte.