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Seine eigenen Leute waren hier stärker vertreten als im Norden. Sie waren nicht mehr so zahlreich wie früher einmal, wurden aber von der Bevölkerung ebenso akzeptiert wie die Anhänger anderer »Kulte«. Trotzdem war er den wenigen pentadrianischen Götterdienern, die er gesehen hatte, aus dem Weg gegangen. Obwohl einheimische Traumweber ihm versicherten, dass die Götterdiener Heiden tolerierten, war er doch überdies auch ein Nordländer. Die kranken Pentadrianer, die erfahren hatten, woher er kam, hatten seine Hilfe entweder abgelehnt oder sie nur widerstrebend angenommen, wenn er in Begleitung einheimischer Traumweber gewesen war. Er erwartete nicht, dass die Priester und Priesterinnen ihrer Religion anders empfinden würden.

Die Felsenkette, die Avven nach Norden hin begrenzte, ragte über dem Wald des Landes auf wie eine riesige Welle, die Dekkar jeden Augenblick unter sich zu begraben drohte. Als sie weiter nach Süden segelten, wich sie langsam zurück und verwandelte sich in einen bläulichen Schatten, der sich wie ein zweiter Horizont durch das Blickfeld zog. Immer wieder erschienen nun auch Gebäude an der Küste. Erbaut auf hohen Pfählen, bestanden sie größtenteils aus Holz und waren durch erhöhte Gehwege miteinander verbunden, obwohl hier und da - zumeist in der Mitte einer Stadt - ein steinernes Gebilde herausragte. Auf diesen Bauwerken prangte deutlich sichtbar in Weiß auf schwarzem Hintergrund gemalt das Sternensymbol der Fünf Götter.

Die Sonne stand bereits tief am Horizont, als das Schiff endlich das Ufer ansteuerte. Der Kapitän lavierte es in eine Bucht, in der sich bereits viele andere Boote drängten und die von der größten Masse an Gebäuden umgeben war, die Mirar bisher gesehen hatte. Die breiten Plattformen, auf denen die Häuser gebaut waren, waren durch einfache Hängebrücken aus Seilen und Stegbrettern oder hell angestrichene Holzbrücken verbunden.

Als Mirar den Blick des redseligen Seemanns auffing, deutete er fragend auf die Stadt.

»Kave«, erklärte der Mann.

Dies war Dekkars Hauptstadt und Rikkens Heimat. Mirar ging auf den Frachtraum zu. Der alte Kaufmann wurde ebenso von seiner eigenen Entschlossenheit am Leben erhalten wie von Mirars Hilfe. Jetzt, da er zu Hause war, würde seine Entschlossenheit vielleicht zu schnell schwinden, um ihn noch ans Ufer zu bringen.

Daher hielt er überrascht inne, als Rikken auf wackeligen Beinen aus dem Frachtraum stieg. Yuri, sein Kammerdiener und ständiger Begleiter, stützte ihn an einem Arm. Mirar trat vor, um den anderen Arm zu ergreifen.

Der Blick des alten Mannes suchte die Stadt, und er stieß einen leisen Seufzer aus.

»Das Sanktuarium von Kave«, sagte er. Mirar erkannte das Wort »Sanktuarium«, konnte, was das nachfolgende Gemurmel betraf, jedoch nur raten. Yuri runzelte die Stirn, sagte aber nichts, während Rikken zur Reling hinüberging. Ein Seemann holte von irgendwoher einen Hocker herbei, und Rikken ließ sich darauf niedersinken, um zu warten.

Das Schiff fuhr langsam in die Bucht ein und ließ dort Anker fallen. Dann wurde Rikken vorsichtig in ein Boot hinuntergelassen. Mirar holte seine Tasche aus dem Frachtraum und gesellte sich zu dem alten Mann.

Nachdem das Boot mit Ruderern bemannt worden war, glitt es in flotter Fahrt auf die Stadt zu. Am Kai halfen Mirar und Yuri Rikken an Land. Mirar bemerkte, dass die Pfähle, auf denen die Häuser standen, aus ganzen Baumstämmen bestanden, die in ihrer Vielzahl den Eindruck eines kräftigen, blattlosen Waldes erweckten.

Yuri traf Vorkehrungen, um Rikken von zwei Matrosen eine Treppe hinauf zu der darüber gelegenen Plattform tragen zu lassen. Zwei andere hoben eine Sänfte an, die im Boot verstaut gewesen war. Sobald sie die miteinander verbundenen Plattformen der Stadt erreicht hatten, ließ Rikken sich in die Sänfte sinken, und die vier Seeleute griffen nach den Tragestangen. Mirar sah zu, wie sie sich in Richtung des Sanktuariums auf den Weg machten, und entbot dem alten Mann ein wortloses Lebewohl.

Als hätte er Mirars Gedanken gehört, drehte der alte Mann sich nach ihm um und runzelte die Stirn. Er krächzte etwas, und die Männer blieben stehen.

»Du kommst mit uns«, erklärte Yuri.

Mirar zögerte, dann nickte er. Ich werde ihn bis zum Sanktuarium begleiten, sagte er sich. Danach werde ich mich verabschieden und das Traumweberhaus des Ortes aufsuchen. Während die Seeleute Rikken unter den Augen der Bewohner Kaves von der Veranda eines Hauses zur nächsten trugen, schloss Mirar sich der kleinen Gruppe an. Ein Labyrinth von Veranden und Brücken folgte. Die Matrosen konnten die Sänfte nicht über die weniger stabilen Seilbrücken tragen, daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen größeren Umweg über die nicht so zahlreichen Holzbrücken zu nehmen. Mehr als eine Stunde verstrich, bis sie das Sanktuarium erreichten.

Es war eine gewaltige Stufenpyramide, die sich aus der schlammigen Erde erhob. Trotz seiner Klobigkeit wirkte das Gebäude auf eindringliche Weise ernst, so dass die Holzhäuser daneben klein und vergänglich erschienen. Vor dem Sanktuarium standen mehrere Götterdiener. Mirar trat näher an die Sänfte heran.

»Es war mir eine Ehre …«, begann er.

Rikken wandte sich zu Mirar um. Sein Gesicht war totenbleich und glänzte von Schweiß. Als Mirar klar wurde, dass der alte Mann kurz vor einem neuerlichen Anfall stand, erstarben ihm die Abschiedsworte in der Kehle. Yuri stöhnte leise auf und drängte die Seeleute zur Eile.

Als die Gruppe hastigen Schrittes auf den Eingang des Sanktuariums zustrebte, stieß Mirar einen Seufzer aus und folgte ihnen. Ich schätze, es wird Zeit herauszufinden, wie diese pentadrianischen Götterdiener auf einen Traumweber aus dem Norden reagieren.

Die Götterdiener kamen herbei, um den Kaufmann ins Sanktuarium zu geleiten. Sobald sie in dem kühlen Innenraum angelangt waren, wurde die Sänfte zu Boden gelassen. Der alte Mann umklammerte jetzt seine Brust. Yuri sah Mirar erwartungsvoll an.

Mirar ging neben Rikken in die Hocke und griff nach seiner Hand. Nachdem er seinen Geist ausgesandt hatte, spürte er, dass das Herz des Mannes zu versagen drohte. Normalerweise hätte er ihn sterben lassen; seine einzige Krankheit war das hohe Alter. Aber man hatte ihn gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass der Mann seine Heimat erreichte, und Mirar war sich im Klaren darüber, dass viele schwarzgewandete Männer und Frauen ihn beobachteten.

Er zog Magie in sich hinein und benutzte sie, um das Herz ein wenig zu stärken. Rikkens Gesicht bekam wieder Farbe, und der gequälte Ausdruck wich aus seinen Zügen. Er holte einige Male tief Luft, dann nickte er Mirar zu.

»Danke.«

Als Mirar aufblickte, sah er sich einem Ring von Götterdienern gegenüber, die ihn und Rikken neugierig beobachteten. Dann trat ein älterer Götterdiener zwischen den anderen hervor und lächelte den Kaufmann an. Er sprach sehr schnell und auf Dekkarisch, und Rikken murmelte eine mürrische Antwort. Der Götterdiener lachte, dann begann er, die anderen Götterdiener herumzukommandieren.

Er hat hier offensichtlich das Sagen, überlegte Mirar.

Ein Stuhl wurde gebracht, und jemand half Rikken, darauf Platz zu nehmen. Aus dem freundlichen Gebaren des alten Götterdieners dem Kaufmann gegenüber entnahm Mirar, dass die beiden einander gut kannten. Er trat zurück und sah sich in dem Raum um.

Während er das tat, stieg unwillkürlich ein Staunen der Anerkennung in ihm auf. Die Wände waren bedeckt mit Bildern, die aus winzigen Bruchstücken glasierten Tons gefertigt und so kunstvoll arrangiert waren, dass sie größeren Detailreichtum zu zeigen schienen, als sie tatsächlich enthielten. Der Raum hatte fünf Wände, und auf jeder davon war einer der pentadrianischen Götter abgebildet.