Sheyr, Hrun, Alor, Ranah und Sraal. Mirar hatte die Namen von den Traumwebern gelernt, denen er begegnet war. Anders als die zirklischen Götter zogen diese es vor, unter sich zu bleiben, und erschienen nur zu wirklich bedeutenden Anlässen. Sie ließen ihre Anhänger ihre Belange selbst regeln, solange sie sich nicht allzu weit von den zentralen Lehren ihrer Religion entfernten.
Was die Frage aufwirft, warum die Pentadrianer Nordithania überfallen haben. Haben sie diese Entscheidung selbst getroffen, oder ist das Führen von Kriegen eine dieser zentralen Lehren? Sie bilden ihre Priester tatsächlich in der Kriegskunst aus, daher ist Letzteres nicht auszuschließen.
Er runzelte die Stirn. Wenn das wahr ist, dann bedeutet das nichts Gutes für die Zukunft Nordithanias.
»Traumweber«, rief Yuri.
Mirar blickte auf und stellte fest, dass der alte Götterdiener ihn ansah. Der Mann begann zu sprechen, aber Yuri unterbrach ihn entschuldigend. Der Götterdiener lauschte, dann zog er die Augenbrauen hoch und schaute wieder zu Mirar hinüber.
»Du aus Nordithania?«, fragte er auf Hanianisch.
Als er den Mann in der nördlichen Sprache sprechen hörte, blinzelte Mirar überrascht, dann nickte er. »Ja.«
»Wie lange du in Südithania gewesen?«
»Einige Monate.«
»Dir gefallen?«
Mirar lächelte. Wie konnte irgendein Besucher in einem fremden Land diese Frage anders als mit einem Ja beantworten?
»Ja. Dein Volk ist freundlich und gastlich.«
Der Priester nickte. »Traumweber im Norden nicht willkommen, höre ich. Jetzt noch schlimmer als früher.« Er sah Rikken an und lächelte. »Hier sind wir nicht solche Narren.«
»Das ist wahr«, pflichtete Mirar ihm bei. Noch schlimmer? Vielleicht sollte ich mich heute Nacht mit der Traumweberältesten Arleej in Verbindung setzen und fragen, ob das wahr ist - und warum.
»Du machen gute Arbeit bei diesem Mann. Danke.«
Mirar neigte den Kopf. Als der Priester sich wieder zu Rikken umwandte, wurde seine Miene ernst. Er sprach in der Mundart der Einheimischen, dann zeichnete er die Gestalt eines Sterns in die Luft. Rikken senkte wie ein getadeltes Kind den Kopf und nickte fügsam.
Mirar holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Der Götterdiener war freundlich, sogar respektvoll gewesen, obwohl er wusste, dass Mirar aus dem Norden kam. Vielleicht war seine Zugehörigkeit zu den Traumwebern Ausgleich genug für die Tatsache, dass er ein Fremder aus einem verfeindeten Land war. Vielleicht waren die Götterdiener in diesen Belangen vernünftiger als gewöhnliche Pentadrianer.
Höchstwahrscheinlich gibt es genauso viele Götterdiener, die mir mit Argwohn begegnen werden, wie es gewöhnliche Pentadrianer tun. Ich kann mich glücklich schätzen, einem Götterdiener begegnet zu sein, der anders denkt. Er lächelte grimmig. Und je länger ich in Südithania bleibe, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich auch einem Götterdiener begegnen werde, der das nicht tut.
2
Auf den höchsten Gipfeln von Si lag noch immer Schnee, aber überall sonst war die Wirkung des warmen Wetters deutlich zu sehen. Der Wald war ein üppiges Meer neuer Triebe und Blumen. In engen Tälern und auf den natürlichen Stufen der Berghänge grünte und gedieh das Getreide.
Die letzten Tage waren die heißesten gewesen, die Auraya je hatte ertragen müssen. In der Vergangenheit hatte sie Si während der kühleren Monate des Jahres besucht. Si kannte sowohl wärmere als auch kühlere Jahreszeiten, als sie sie bisher erlebt hatte - kältere, weil es überwiegend gebirgiges Land war, wärmere, weil es weiter südlich lag als Hania, auf demselben Breitengrad wie das Wüstenland Sennon.
Das Fliegen konnte ein wenig Erleichterung bringen. Die Luft hoch oben war immer kühl. Aber heute flog sie tief. Die Siyee, die sie begleiteten, konnten nicht lange im kalten Wind fliegen. Die Kälte kostete sie viel Kraft.
Sie betrachtete den Mann, der neben ihr flog. Obwohl erwachsen, brachte er es nur auf die Hälfte ihrer Größe. Seine Brust war breit, und seine Beine waren muskulös. Die Knochen seiner letzten drei Finger bildeten einen Teil des Rahmens seiner Flügelmembran, die sich von dort bis zu den beiden Körperseiten erstreckte. Auraya war nun schon so lange bei den Siyee, dass sie sich die Unterschiede zwischen ihnen und ihr selbst immer wieder bewusst vor Augen führen musste. Wenn sie das tat, erstaunte es sie jedes Mal, dass sie ihr, einer »Landgeherin«, ein dauerhaftes Zuhause in ihrem Land angeboten hatten.
Nicht dass sie ihnen keine Gegenleistung geboten hätte. Die magischen Gaben, die sie sich auch nach ihrem Rücktritt von den Weißen bewahrt hatte, kamen den Siyee immer wieder zunutze, insbesondere ihre Fähigkeit, zu fliegen und zu heilen. Sie kehrte gerade von einer Mission in ein anderes Siyee-Dorf zurück, wo sie ein verletztes Mädchen geheilt hatte. Und wären ihre Gaben nicht gewesen, wären viele Hunderte mehr an der Seuche gestorben.
Vor ihr war jetzt die helle Fläche nackten Felsens zu sehen, auf der sich das Offene Dorf - das Hauptdorf der Siyee - befand. Bei diesem Anblick stieg Freude in Auraya auf. Sie konnte am Rand der Felsfläche die Häuser der Siyee erkennen - Lauben aus Membranen, die sich über elastische Holzrahmen spannten, die ihrerseits am Stamm eines gewaltigen Baumes befestigt waren. Außerdem konnte sie auf dem höchsten Felsvorsprung zwei vertraute Gestalten sehen, die nach ihr und ihren Gefährten Ausschau hielten: Sprecherin Sirri, die Anführerin der Siyee, und Sreil, ihren Sohn.
Auraya ließ sich hinabgleiten und landete einige Schritte entfernt, dicht gefolgt von ihren Reisegefährten. Sirri lächelte.
»Du kommst früh zurück«, sagte sie. »Wie ist es gelaufen?«
»Ich konnte ihren Arm heilen«, erwiderte Auraya.
»Es war unglaublich!«, rief der jüngste von Aurayas Begleitern. »Das Mädchen konnte gleich anschließend wieder fliegen!«
Auraya verzog das Gesicht. »Wovon ich ihr dringend abgeraten hatte. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Verwegenheit dieses Mädchens in der Zukunft zu etwas Schlimmerem als einem gebrochenen Arm führen würde.«
»Ihre Mutter ist eine Trinkerin.«
Auraya blickte erstaunt zu dem Mann hinüber, der gesprochen hatte. Der Sprecher des Stammes, dem das Mädchen angehörte, hatte bisher die meiste Zeit geschwiegen. Jetzt sah er ihr in die Augen und zuckte die Achseln. »Wir versuchen, das Mädchen ein wenig Disziplin zu lehren, aber es ist nicht leicht, wenn die Mutter ihr alles durchgehen lässt.«
Auraya dachte an die hysterische Frau zurück, die dem Kind nicht von der Seite gewichen war. »Vielleicht wird sich das jetzt ändern.«
»Das bezweifle ich«, murmelte der Mann. Dann zuckte er erneut die Achseln. »Mag sein. Ich sollte nicht - was ist das?«
Sie folgte seinem Blick und lächelte, als sie ein kleines Geschöpf auf sich zuspringen sah. Es hatte die spitzen Ohren flach an den Kopf gelegt, und sein buschiger Schwanz flatterte hinter ihm her wie ein Banner. »Das ist ein Veez. Sein Name ist Unfug.«
Sie bückte sich und ließ den Veez ihren Arm hinaufhuschen. Unfug beschnupperte sie, dann rollte er sich um ihre Schultern zusammen.
»Owaya zurück«, sagte er zufrieden.
Der Stammesführer starrte den Veez erstaunt an. »Es hat deinen Namen gesagt. Es kann sprechen?«
»Das kann er, obwohl du keine aufregende Konversation erwarten darfst. Seine Interessen haben im Allgemeinen mit Essen oder Körperpflege zu tun.« Sie kraulte Unfug hinter den Ohren, und er bewies die Wahrheit ihrer Worte, indem er flüsterte: »Kraulen schön.«
Sirri kicherte. »Ich fürchte, das wirst du bald wieder seinem Aufpasser überlassen müssen. Heute Morgen ist ein Bote vom Nordwaldstamm gekommen. Er berichtet, dass er vor einigen Tagen einer kranken Landgeherin begegnet ist. Sie hat darum gebeten, dass du sie behandelst.«
Auraya blinzelte überrascht. »Eine Landgeherin?«