»Ja.« Sirri lächelte grimmig. »Ich habe den Mann gefragt, ob er den Verdacht habe, es könne sich um eine Pentadrianerin handeln. Er ist sich sicher, dass sie es nicht ist. Tatsächlich sagt er, sie habe Si schon früher besucht, um sich in Sicherheit zu bringen, als der Krieg begann. Möchtest du ihn selbst befragen?«
»Ja.«
Die Sprecherin sah Sreil an. »Könntest du ihn herholen? Danke. In der Zwischenzeit …« Sie wandte sich wieder den Siyee zu, die Auraya ins Offene Dorf begleitet hatten. »Ihr seid mir alle in meiner Laube willkommen, um mit mir zu essen.«
Während sie auf Sirris Heim zugingen, dachte Auraya über die Möglichkeit nach, dass diese Landgeherin eine pentadrianische Zauberin sein könnte, die sich nicht zu erkennen gab. Es war wahrscheinlich, dass sich die Neuigkeit von ihrem Rücktritt bis nach Südithania herumgesprochen hatte und dass einer der dortigen fünf Zauberer hergekommen war, um Rache für den Tod ihres früheren Anführers Kuar zu nehmen, den Auraya im Krieg getötet hatte.
Nach ihrem Rücktritt von den Weißen hatte sie sich ihre Fähigkeit, zu fliegen und zu heilen, bewahrt, aber sie hatte bisher keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, ob sie noch immer über die Gaben des Kampfes verfügte, die die Götter ihr verliehen hatten, um Nordithania zu verteidigen. Ich habe keine Ahnung, wie stark meine Gaben jetzt sind, aber bisher macht es nicht den Eindruck, als seien sie deutlich verringert worden. Genaueres werde ich wohl herausfinden, falls diese Frau sich als eine pentadrianische Meuchelmörderin erweist.
Sie konnte nur vermuten, dass sie nicht länger unsterblich war. Es würde Jahre dauern, bevor die ersten Anzeichen des Alters bestätigten, dass sie diese Gabe verloren hatte. War es das wert gewesen? Sie schaute sich im Offenen Dorf um und nickte. Durch ihre Fähigkeit, schnell von einem Dorf zum nächsten fliegen zu können, gepaart mit der Gabe der Heilung, die Mirar sie gelehrt hatte, hatte sie, während die Herzzehre überall im Land grassierte, den Tod vieler hundert Siyee verhindern können. Sie hatte jedoch nicht alle retten können. Sie war nicht in der Lage, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, und auf dem Höhepunkt der Seuche hatte es zu viele kranke Siyee gegeben, als dass sie alle hätte erreichen können.
Obwohl der offizielle Grund für ihren Rücktritt von den Weißen - die Seuche in Si - nicht mehr existierte, stellte sie fest, dass sie ihre frühere Position nicht vermisste. Sie war damit zufrieden, den Rest ihres Lebens darauf zu verwenden, den Siyee zu helfen. Juran hatte ihr gestattet, Priesterin zu bleiben, und er hatte ihr sogar einen Priesterinnenzirk geschickt. Einer der zwei Priester, die sich zu den beiden gesellt hatten, die bereits im Offenen Dorf gewesen waren, hatte diese Dinge mitgebracht.
Juran war der einzige Weiße, der sich noch immer per Gedankenrede mit ihr in Verbindung setzte. Von den anderen hatte sie nichts mehr gehört. Auch die Götter besuchten sie nicht länger, obwohl sie gelegentlich in der Magie um sich herum etwas wahrnahm, das auf Chaias Anwesenheit schließen ließ.
Ich frage mich, ob er mich beobachtet. Er muss wissen, ob diese Landgeherin eine Pentadrianerin ist oder nicht. Ich wüsste gern, ob er mich warnen würde, wenn sie tatsächlich eine ist.
Sie vermisste seine Besuche. Manchmal sehnte sie sich nachts nach seiner Berührung und nach der unbeschreiblichen, wunderbaren Wonne, die er ihr geschenkt hatte, als sie Liebende gewesen waren. Aber das war nur Erregung gewesen, nicht Zuneigung. Was sie am meisten vermisste, war jemand, dem sie sich anvertrauen konnte. Mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte.
Selbst wenn dieser Jemand die Quelle meiner Sorgen ist, ging es ihr durch den Kopf.
Am Waldrand angekommen, führte Sirri sie zu ihrer Laube. Sie war ein wenig größer als die anderen und ermöglichte es ihr, dort Versammlungen abzuhalten. Nachdem sie eingetreten waren, setzten sie sich und begannen, das Brot, die Früchte und die Nüsse zu essen, die Sirri vor ihnen auf den Tisch stellte. Nach einigen Minuten kam Sreil mit dem Boten zurück, einem jungen Mann, den er als Tyve vorstellte und der Auraya vertraut erschien.
»Wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr?«, fragte Auraya.
Der Siyee nickte. »Ja. Ich habe Traumweber Wilar geholfen, als du letztes Jahr in mein Dorf gekommen bist.«
Wilar. Bei dem Namen überlief Auraya ein Schauer, und ein Gesicht blitzte in ihrer Erinnerung auf. Wilar war der Name, den Mirar bei den Siyee benutzt hatte.
Wilar. Mirar. Leiard. Ich frage mich, ob er noch andere Namen benutzt.
Sie war entsetzt gewesen zu entdecken, dass der Mann, der sie als Kind mit Magie und Heilmitteln vertraut gemacht hatte, der Mann, den sie als erwachsene Frau geliebt und dem sie vertraut hatte, in Wirklichkeit der berühmte Mirar war, der unsterbliche Begründer der Traumweber. Der Verrat hatte sie zuerst wütend gemacht, aber sie hatte an ihrem Zorn nicht länger festhalten können, sobald er ihr seinen Geist geöffnet hatte, um ihr die Wahrheit über seine Vergangenheit zu zeigen.
Es war unmöglich, sich vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein musste, zerquetscht unter einem Gebäude wieder zu sich zu kommen, um später ohne Erinnerung weiterleben zu müssen, während sein verkrüppelter Körper über viele, viele Jahre hinweg langsam heilte. Er hatte die Persönlichkeit, die Leiard war, erfunden und seine eigene unterdrückt, um seine wahre Identität vor den Göttern zu verbergen.
Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat, dachte sie. Ich kann nicht umhin, ihn dafür zu bewundern.
Als sie ihm im Dorf des Nordflussstamms begegnet war, hatte Mirars wahres Ich die Kontrolle zurückerlangt, indem er es mit der Persönlichkeit Leiards vermischte.
Ich hatte gerade angefangen, ihn wieder zu mögen, als die Götter mir den Befehl gaben, ihn zu töten.
»Erinnerst du dich?«, fragte Tyve zaghaft.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den jungen Siyee. »Ja. Das tue ich. Sirri sagt, du seist dieser Landgeherin schon einmal begegnet?«
Er nickte. »Ja, am selben Ort, an dem wir zum ersten Mal auf Wilar gestoßen sind. Ich glaube, die beiden kennen einander.«
Aurayas Herz setzte einen Schlag aus. Konnte dies die Freundin sein, die sie kurz in Mirars Geist gesehen hatte, als er ihr seine Gedanken öffnete?
»Wie sieht sie aus?«
»Groß, Haare von der Farbe von Blutsaft, aber heller. Bleiche Haut. Grüne Augen.«
Auraya nickte. Die Frau in Mirars Erinnerung hatte rotes Haar gehabt. »Hat sie dir ihren Namen genannt?«
»Ja. Jade Tänzerin.«
»Und woran leidet sie?«
»Sie weiß es nicht. Irgendetwas in ihrem Bauch.«
Wenn die Frau Mirars Freundin war, warum war sie dann nach Si gekommen? Suchte sie nach Mirar? Hatte sie die weite Reise unternommen, weil sie seine Hilfe brauchte, nur um erfahren zu müssen, dass er fort war? Auraya runzelte die Stirn. Ist die Krankheit real oder ein Betrug, um mich zu ihr zu führen? Warum sollte sie sich mit mir treffen wollen?
Wenn die Frau Mirars Freundin war, würden die Götter sie wahrscheinlich nicht billigen. Ob der eine oder andere von ihnen jetzt zuhört? Sie erspürte die Magie um sich herum, konnte aber keinen Hinweis auf die Anwesenheit der Götter entdecken. Ich hoffe nur, die Götter werden nicht noch einmal von mir verlangen, jemanden zu töten. Das ist das Letzte, was ich will. Je eher ich diese Frau treffe und sie ihres Weges schicke, desto besser.
»Wirst du ihr helfen?«, fragte Tyve. »Sie ist nett«, fügte er hinzu.
Auraya nickte. »Ja, ich werde ihr helfen.« Selbst wenn sie nicht krank ist, möchte ich wissen, warum sie nach Si gekommen ist. Und vielleicht hat sie ja auch Nachrichten von Mirar.
Im Treppenhaus hallten das leise Scharren und das Klirren von Ketten wider, als der Käfig, in dem Danjin stand, sich aufwärtsbewegte. Er sah zu, wie die vielen Stockwerke des Weißen Turms an ihm vorüberglitten. Manchmal fühlte es sich so an, als stünde der Käfig still, während sich der Turm um ihn herum auf und ab bewegte. Bei solchen Gelegenheiten fragte er sich, ob Auraya den gleichen Eindruck hatte, wenn sie »flog«.