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»Haben Sie denn niemand zu Ihrer Pflege?« fragte ich.

»Niemand«, antwortete er mit dumpfem Ton.

»Haben Sie keinen Vater, keine Mutter, keinen Verwandten?«

»Niemand.«

»Keine Geliebte?«

Er schüttelte seufzend den Kopf, und es kam mir vor, als murmelte er den Namen Luise; doch was er sagte, war so undeutlich, daß ich mir keineswegs sicher war. »Ich kann Sie nicht so verlassen«, sagte ich. »Schicken Sie mir eine Wärterin«, erwiderte der Verwundete. »Sagen Sie ihr, ich werde sie gut bezahlen.« Ich stand auf, um ihn zu verlassen. »Sie gehen schon?« fragte er.

»Ich muß, ich habe meine Kranken; wären es Reiche, so hätte ich vielleicht das Recht, sie warten zu lassen; doch es sind Arme, und ich muß pünktlich sein.« »Sie werden im Verlauf des Tages wiederkommen, nicht wahr?« »Ja, wenn Sie es wünschen.« »Gewiß, und so bald als möglich, nicht wahr?« »So bald als möglich.« »Sie versprechen es mir?« »Ich verspreche es Ihnen.« »Gut.«

Ich ging zwei Schritte zur Tür, der Verwundete machte eine Bewegung, als wollte er mich zurückhalten und den Mund öffnen. »Was wünschen Sie?« fragte ich. Er ließ seinen Kopf wieder sinken, ohne zu antworten. Ich näherte mich ihm.

»Sprechen Sie«, fuhr ich fort. »Wenn es in meiner Macht liegt, Ihnen einen Dienst zu leisten, werde ich es tun.« Er schien einen Entschluß zu fassen. »Sie haben mir gesagt, die Wunde wäre nicht tödlich?« »Ich habe es gesagt.«

»Können Sie mir dafür einstehen?«

»Ich glaube; wenn Sie jedoch irgendeine Anordnung zu treffen haben .«

»Nicht wahr, das heißt, ich könnte jeden Augenblick sterben?«

Und er wurde noch bleicher, kalter Schweiß perlte an seinem Haaransatz.

»Ich habe Ihnen gesagt, die Wunde wäre nicht gefährlich, zu gleicher Zeit bemerkte ich aber auch, sie wäre bedenklich.«

»Mein Herr, nicht wahr, ich darf Vertrauen zu Ihrem Wort haben?«

»Man muß diejenigen, an denen man zweifelt, nicht fragen .«

»Nein, nein, ich zweifle nicht an Ihnen. Nehmen Sie«, fügte er hinzu, indem er mir einen Schlüssel bot, den er von einer um den Hals hängenden Kette löste, »öffnen Sie mit diesem Schlüssel die Schublade jenes Sekretärs dort.«

Ich tat, was er von mir verlangte; er erhob sich auf einen Ellenbogen; alles, was ihm von Leben blieb, schien sich in seinen Augen zusammengedrängt zu haben.

»Sie sehen ein Portefeuille?« sagte er.

»Hier ist es.«

»Es ist voll von Familienpapieren, die nur mich interessieren; Doktor, schwören Sie mir, dieses Portefeuille, wenn ich sterbe, in das Feuer zu werfen.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Ohne die Papiere zu lesen?«

»Das Portefeuille ist mit einem Schlüssel geschlossen.«

»Ein solches Schloß ist leicht zu öffnen.«

Ich legte das Portefeuille wieder hin. Obgleich das Wort beleidigend war, hatte es mir mehr Ekel als Zorn eingeflößt.

Der Kranke sah, daß er mich verletzt hatte.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung; der Aufenthalt in den Kolonien hat mich mißtrauisch gemacht.

Vergeben Sie, nehmen Sie das Portefeuille wieder, und versprechen Sie mir, es zu verbrennen, wenn ich sterbe.«

»Ich verspreche es Ihnen zum zweitenmal.«

»Ich danke.«

»Ist dies alles?«

»Sind in derselben Schublade nicht mehrere Banknoten?«

»Ja, zwei von tausend, drei von fünfhundert.«

»Ich bitte, geben Sie sie mir, Doktor.«

Ich nahm die Geldscheine und gab sie ihm; er zerknitterte sie und machte eine runde Kugel daraus, die er unter sein Kopfkissen steckte.

»Ich danke«, sagte er, erschöpft durch die Anstrengungen. Dann sank er zurück und murmelte: »Ah, Doktor, ich glaube, ich sterbe. Doktor, retten Sie mich, und diese fünf Scheine gehören Ihnen, das Doppelte, das Dreifache, wenn es sein muß ... Ah ...!«

Ich ging auf ihn zu; er war abermals ohnmächtig. Ich läutete einem Bedienten, während ich den Verwundeten an einem Fläschchen mit englischem Salz riechen ließ. Nach einigen Augenblicken fühlte ich an der Bewegung seines Pulses, daß er wieder zu sich kam.

»Diesmal noch nicht«, murmelte er; dann öffnete er die Augen, schaute mich an und fügte hinzu: »Ich danke, Doktor, daß Sie mich nicht verlassen haben.«

»Doch nun muß ich Sie aber wirklich verlassen«, erwiderte ich.

»Bitte kommen Sie bald zurück.«

»Gegen Mittag werde ich hier sein.«

»Was meinen Sie, habe ich bis dahin mit irgendwelchen Gefahren zu rechnen?«

»Ich glaube nicht. Hätte der Degen eine tödliche Wunde geschlagen, wären Sie jetzt schon tot; so aber werden Sie es überstehen.«

»Und Sie schicken mit eine Wärterin?«

»Auf der Stelle; mittlerweile darf Sie jedoch Ihr Bedienter nicht verlassen.« »Gewiß«, sagte der Lakai, »ich kann beim gnädigen Herrn bleiben.«

»Nein, nein«, rief der Verwundete. »Gehen Sie zu Ihrem Kameraden, ich wünsche zu schlafen; wenn Sie dableiben, hindern Sie mich daran.«

Der Lakai ging hinaus.

»Es ist nicht klug, allein zu bleiben«, sagte ich.

»Ist es nicht unklüger, mit einem Burschen zu bleiben, der mich ermorden kann, um mich zu bestehlen?« erwiderte er. »Das Loch ist gemacht«, fügte er mit leiser Stimme hinzu. »Schiebt man einen Degen in die Wunde, läßt sich das Herz finden, das mein Gegner verfehlt hat.«

Ich zitterte bei dem Gedanken, der den Geist dieses Menschen durchzuckt hatte; wer war er denn, daß ihm solche Ideen kamen?

»Nein«, fuhr er fort, »nein, im Gegenteil, schließen Sie mich ein, nehmen Sie den Schlüssel, geben Sie ihn der Wärterin, und empfehlen Sie ihr, mich weder bei Tag noch bei Nacht zu verlassen; nicht wahr, es ist eine ehrliche Frau?«

»Ich bürge für sie.«

»Nun gut, so gehen Sie; auf Wiedersehen - um Mittag.«

Ich ging hinaus und schloß ihn seiner Bitte gemäß ein.

»Doppelt«, rief er, »doppelt.«

Ich drehte den Schlüssel noch einmal um.

»Meinen Dank«, sprach er mit schwacher Stimme. Ich entfernte mich.

»Euer Herr will schlafen«, sagte ich zu den Lakaien, die im Vorzimmer lachten, »und da er fürchtet, ihr könntet bei ihm eintreten, ohne gerufen zu sein, hat er mir den Schlüssel für die Wärterin übergeben, die hierherkommen wird.«

Die Lakaien wechselten einen seltsamen Blick, antworteten aber nichts.

7. Kapitel

 Der Kranke

Ich verließ das Haus. Fünf Minuten später war ich bei einer vortrefflichen Krankenwärterin, die sich sofort, nachdem ich ihr Instruktionen gegeben, in die Wohnung Henri de Favernes verfügte.

Meinem Versprechen gemäß kehrte ich zur Mittagsstunde zurück. Er schlief noch.

Ich hatte einen Augenblick den Gedanken, erst meine anderen Krankenbesuche zu erledigen und danach wiederzukommen. Doch er hatte der Wärterin so sehr empfohlen, man möchte mich, wenn ich käme, bitten zu warten, bis er erwacht wäre, so daß ich mich in den Salon setzte, auch auf die Gefahr hin, eine halbe Stunde von der einem Arzt stets so kostbaren Zeit zu verlieren.

Während ich dasaß und wartete, warf ich einen Blick umher und versuchte, indem ich die Gegenstände seiner Umgebung betrachtete, mir ein Bild von dem Menschen zu machen, den ich behandelte.

Beim ersten Anblick erweckten alle diese Gegenstände den Anschein von Eleganz; wenn man sie aber genauer betrachtete, erkannte man das Gepräge einer geschmacklosen Kostbarkeit: Die Teppiche waren schreiend bunt und gehörten zu den größten, welche die Magazine von Sallandrouze auf Lager haben, und sie waren auch nicht auf die Farbe der Tapeten und die der Möbel abgestimmt.