12. Kapitel
Die Beichte
»Es vergingen acht Tage, bis ich wieder eine Nachricht von Gabriel erhielt; der Morgen des achten Tages brachte mir endlich einen Brief von ihm.
Gabriel war, wie er mir schrieb, in Paris angekommen, bei seinem Bankier eingetreten und wohnte einstweilen in einem kleinen Hotel der Rue des Vieux-Augustins.
Dann kam eine Schilderung von Paris und dem Eindruck, den die Hauptstadt in ihm hervorgerufen hatte.
Er war trunken vor Freude.
Eine Nachschrift kündigte mir an, ich würde in drei Monaten sein Glück teilen.
Statt mich zu beruhigen, erfüllte mich dieser Brief mit tiefer Betrübnis, und zwar ohne daß ich begriff, warum.
Ich fühlte, daß ein Unglück über meinem Haupt schwebte und bereit war, auf mich niederzustürzen.
Ich antwortete ihm indessen, als ob ich mich mit ihm freute, und tat so, als glaubte ich an die Zukunft, die er mir versprach. Eine innere Stimme jedoch sagte mir, daß mir nichts Angenehmes bevorstände.
Vierzehn Tage später erhielt ich einen zweiten Brief. Er ließ mich in Tränen ausbrechen.
Wenn Gabriel sein Versprechen nicht hielt, war ich ein entehrtes Mädchen; ich würde in acht Monaten Mutter werden.
Ich wankte einen Augenblick: Sollte ich Gabriel das mitteilen oder nicht?
Doch ich hatte niemand außer ihm in der Welt, dem ich mich anvertrauen konnte. Überdies hatte er die gleiche Schuld an meinem Fehltritt wie ich, und wenn mich jemand unterstützte, so war es billig, daß er es tat.
Ich schrieb ihm deshalb, er möge unser Wiedersehen so sehr wie möglich beschleunigen, und sagte ihm, in Zukunft ginge es nicht nur um unser Glück, sondern auch um das unseres Kindes.
Ich hoffte umgehend Antwort zu erhalten, oder ich zitterte vielmehr, gar keine mehr zu bekommen, denn es rief mir, wie gesagt, ein dumpfes Vorgefühl zu, alles wäre für mich zu Ende.
Gabriel antwortete in der Tat nicht mir, sondern seinem Vater; er meldete ihm, der Bankier, bei dem er beschäftigt sei, habe bedeutende Geschäfte in Guadeloupe, und da der Bankier bei ihm mehr Geschick erkannt habe als bei seinen Bürogenossen, habe er ihn beauftragt, diese Geschäfte wahrzunehmen, und ihm versprochen, ihn bei seiner Rückkehr am Gewinn zu beteiligen. Demzufolge werde er noch an demselben Tag nach den Antillen abreisen; die Zeit seiner Rückkehr könne er noch nicht bestimmen.
Zugleich schickte er von dem Gelde, das ihm der Bankier zu der Reise gegeben, seinem Vater die fünfhundert Franc zurück, die er für ihn geliehen hatte. Diese Summe bestand in einem FünfhundertFranc-Schein.
Eine Nachschrift sagte seinem Vater, da er keine Zeit mehr habe, mir zu schreiben, bitte er ihn, mich davon zu unterrichten.
Der Schlag war, wie man leicht begreift, furchtbar.
Da ich jedoch noch nie von Gabriel eine Antwort umgehend erhalten hatte, wußte ich nicht, wieviel Tage ein Brief braucht, um nach Paris zu gelangen, und folglich auch nicht, in wieviel Zeit man eine Antwort erhalten konnte.
Ich hoffte also gutgläubig, sein Brief sei wahrscheinlich geschrieben worden, ehe er den meinigen empfangen.
Unter irgendeinem Vorwand ging ich zum Bürgermeister und bat ihn um Auskunft darüber. Er hielt den Geldschein in der Hand, den ihm Vater Thomas gegeben hatte.
>Nun, Marie!< sagte er, als er mich sah, >dein Geliebter ist auf dem besten Weg, sein Glück zu machen.< Ich antwortete ihm nur mit Tränen.
>Wie<, rief er, >es macht dir Kummer, daß Gabriel zu Geld kommt? -Ich habe schon immer gesagt, das Glück dieses Burschen liege in seinen Fingerspitzen.<
>Mein Herr<, erwiderte ich, >Sie täuschen sich in mir; ich werde dem Himmel stets für jedes Glück danken, das Gabriel widerfährt; ich befürchte nur, er wird mich in seinem Glück vergessen.<
>Das könnte schon sein, meine arme Marie<, entgegnete der Bürgermeister, >ich möchte nicht dafür einstehen, und wenn ich dir raten soll, sage ich dir: Komm Gabriel zuvor, sobald sich dir eine Gelegenheit bietet. Du bist ein fleißiges, ordentliches Mädchen, an dem ich nie etwas zu tadeln gehabt habe, trotz deines Verhältnisses mit Gabriel. Nun wohl! Ich würde den ersten hübschen Jungen, der sich zeigt, nehmen und gegen Gabriel tauschen; und höre, Andre Morin, der Fischer, sprach mit mir erst gestern davon.<
Ich unterbrach ihn und sagte: >Herr Bürgermeister, ich werde entweder Gabriels Frau, oder ich bleibe ledig; wir haben uns Treue gelobt, die er vergessen kann, die ich aber nie vergessen werde.<
>Ja, ja<, erwiderte er, >ich kenne das; so richten sich alle die armen, unglücklichen Mädchen zugrunde; mach es, wie du willst, mein Kind, ich habe keine Gewalt über dich, doch wenn ich dein Vater wäre, wüßte ich, was ich tun würde.<
Ich erkundigte mich schließlich noch nach dem, was ich wissen wollte, und kehrte wieder nach Hause zurück. Ich konnte mir leicht ausrechnen: Gabriel hatte an seinen Vater geschrieben, nachdem er meinen Brief erhalten.
Ich wartete vergebens den nächsten Tag, den zweiten Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat: Ich erhielt keine Nachricht von Gabriel.
Eine Hoffnung hatte mich aufrechterhalten; da er keine Zeit gehabt, mir von Paris aus zu schreiben, würde er mir wohl von dem Hafen aus schreiben, wo er sich einschiffte, oder wenn er nicht von diesem Hafen aus schreiben konnte, würde er mir wenigstens von Guadeloupe schreiben.
Ich verschaffte mir eine Karte und fragte einen unserer Matrosen, der mehrere Reisen nach Amerika gemacht hatte, welche Route die Schiffe fahren, wenn sie nach Guadeloupe wollen. Er zog mir mit dem Bleistift eine lange Linie, und ich hatte wenigstens den Trost zu sehen, welchen Weg Gabriel verfolgte.
Bevor ich auf Nachricht von ihm hoffen dürfte, würden mindestens drei Monate vergehen. Ich erwartete mit ziemlich viel Ruhe den Ablauf dieser drei Monate, doch es kam nichts, und ich blieb in dem furchtbaren Halbdunkel, das man Zweifel nennt und das noch viel schlimmer ist als die Nacht.
Die Zeit verging indessen; alle Empfindungen, die das Dasein und Wachsen eines Wesens ankündigen, regten sich in mir. Es sind gewiß köstliche Empfindungen, wenn das Kind in eine Familie hineinwächst, aber schmerzliche, bittere und gräßliche Empfindungen, wenn jede Bewegung an den Fehltritt und das Unglück erinnert.
Ich war seit sechs Monaten in anderen Umständen, bis dahin hatte ich meine Schwangerschaft glücklich vor aller Augen verborgen; doch ein furchtbarer Gedanke verfolgte mich: der Gedanke, daß ich, wenn ich fortführe, mich so zusammenzuschnüren, das Leben meines Kindes gefährden könnte.
Ostern stand kurz bevor. Das ist bekanntlich in unseren Dörfern die Zeit der großen Beichte. Auf ein Mädchen, das Ostern nicht wie die anderen feierte, würden alle ihre Kameradinnen mit dem Finger deuten.
Ich war im Grunde meines Herzens zu religiös, als daß ich hätte zum Beichtstuhl gehen können, ohne meinen Fehltritt ganz zu enthüllen; seltsamerweise aber sah ich die Zeit dieser Enthüllung mit einer gewissen Freude nahen, in die sich jedoch auch Furcht mischte.