»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, ich langweile Sie, Doktor, ich ermüde Sie, und das ist mir um so schrecklicher, als ich nicht weiß, wie ich Sie für Ihre Bemühungen entschädigen soll; doch Sie sehen, ich leide wirklich, nicht wahr? Und Sie haben Mitleid mit mir.«
Ich schaute ihn an.
Es ließ sich wohl kaum ein verstörteres Gesicht finden als das seine, und ich bekam wahrhaft Mitleid.
»Ja, Sie leiden; ich begreife, daß das Leben für Sie eine Marter ist.«
»Nämlich, sehen Sie, Doktor, es gibt keine von jenen Waffen, Dolch oder Pistole, die ich nicht zweimal an mein Herz oder an meine Stirn gesetzt habe!«
Er dämpfte seine Stimme und sagte hohnlachend: »Ich bin ein Feigling; ich habe Furcht vor dem Sterben. Glauben Sie das? Sie, Doktor, der Sie gesehen, wie ich mich geschlagen habe? Glauben Sie, daß ich vor dem Sterben zittere?«
»Von Anfang an glaubte ich zu wissen, daß Sie diese Art von Mut nicht besitzen, mein Herr.«
»Wie, Doktor, Sie wagen es, mir das ins Gesicht zu sagen?«
»Ja, ich sage, Sie haben nur den Mut, der mit dem Blut in den Kopf steigt, den Mut, im Affekt zu handeln.«
Er stieß einen Seufzer aus, sank in einen Lehnstuhl und schwieg.
»Aber«, sagte ich nach einem Augenblick, »Sie haben mich doch nicht zu sich gebeten, um mit mir über die verschiedenen Arten von Mut zu sprechen, nicht wahr, sondern um von ihr zu reden?«
»Ja, ja, Sie haben recht, um von ihr zu reden. Nicht wahr, Sie haben sie gesehen?«
»Ja.«
»Nun, was sagen Sie zu ihr?« »Ich sage, daß es ein edles Herz, ein frommes Mädchen ist.«
»Ja, doch mittlerweile wird sie mich ins Verderben stürzen, denn, nicht wahr, sie wollte nichts hören, sie schlägt jede Entschädigung aus, sie will, daß ich sie heirate, oder sie wird es in allen Straßen ausschreien, wer ich bin, und vielleicht auch, was ich bin?«
»Ich kann Ihnen nicht verbergen, daß sie in dieser Absicht nach Paris gekommen ist.«
»Sollte sie anderen Sinnes geworden sein, Doktor? Sollte es Ihnen gelungen sein, sie zu bewegen, ihre Ansichten zu ändern?«
»Ich habe ihr gesagt, was ich denke: daß es besser wäre, Marie Granger als Frau de Faverne zu sein.«
»Wie soll ich das verstehen, Doktor, wollen Sie etwa sagen ...?«
»Ich will sagen, Herr Lambert«, erwiderte ich kalt, »daß ich, zwischen dem vergangenen Unglück Marie Grangers und dem zukünftigen Unglück Fräulein de Macarties wählend, das Unglück des armen Mädchens, das seinem Kind keinen Namen zu geben hat, vorziehen würde.«
»Doktor, Sie haben recht, mein Name ist ein unseliger Name. Doch sagen Sie mir, lebt mein Vater noch?«
»Ja.«
»Gott sei gelobt, ich habe seit mehr als fünfzehn Monaten keine Nachricht mehr von ihm erhalten.«
»Er war nach Paris gekommen, Sie zu suchen, und erfuhr, Sie wären nicht nach Guadeloupe abgereist.«
»Großer Gott! Und was hat er in Paris gehört?« »Er hat gehört, daß Sie nie bei dem Bankier gewesen sind und daß der Brief, den er von Ihrem angeblichen Beschützer empfangen hatte, nie von diesem geschrieben worden ist.«
Der Unglückliche stieß einen Seufzer aus, der einem Stöhnen glich. Dann fuhr er mit den Händen nach seinen Augen. »Er weiß es«, murmelte er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Was soll ich dazu sagen? Dieser Brief war allerdings vorgespiegelt; aber er schadete niemand. Ich wollte nach Paris und wäre verrückt geworden, wenn ich es nicht durchgesetzt hätte. Ich wandte dieses Mittel an, es war das einzige. Hätten Sie an meiner Stelle nicht dasselbe getan, Doktor?«
»Fragen Sie mich das im Ernst, mein Herr?« sprach ich, indem ich ihn fest anschaute.
»Doktor, Sie sind der unbeugsamste Mensch, den ich kenne«, erwiderte der Vicomte, der nun aufstand und mit großen Schritten auf und ab ging. »Sie haben mir immer nur Hartes gesagt, und dennoch - wie kommt das? - sind Sie der einzige Mensch, zu dem ich grenzenloses Zutrauen habe. Wenn ein anderer die Hälfte der Dinge ahnte, die Sie wissen .«
Er näherte sich einer an der Wand hängenden Pistole und legte die Hand an den Kolben mit einem Ausdruck von Wildheit, der mehr einem reißenden Tier als einem Menschen gehörte.
»Ich würde ihn töten!«
In diesem Augenblick trat ein Bedienter ein.
»Was wollen Sie?« fragte der Vicomte unwirsch.
»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich den gnädigen Herrn trotz seines Befehles unterbreche, der gnädige Herr hat vor drei Monaten seine Ställe neu besetzt, und es kommt nun ein Kommis der Bank, um den Wechsel einzuziehen, den ihm der gnädige Herr ausgestellt hat.«
»Wie hoch ist der Wechsel?« fragte der Vicomte.
»Viertausend Franc.«
»Es ist gut«, sagte der Vicomte, indem er auf seinen Sekretär zuging und aus der Brieftasche, die er mir zu Beginn unserer Bekanntschaft zum Aufbewahren gegeben hatte, vier Banknoten von je tausend Franc nahm. »Hier sind sie, und bringen Sie mir den Wechsel.«
Aus der Brieftasche Banknoten nehmen und sie seinem Bedienten übergeben war eine ganz einfache Handlung; doch der Vicomte vollzog diese Handlung mit einem sichtbaren Zögern, und sein gewöhnlich bleiches Antlitz wurde leichenfahl, als er unruhig hinter dem Bedienten hersah, der mit den Scheinen wegging.
Einen Augenblick lang herrschte düsteres Stillschweigen; der Vicomte bewegte zwei- oder dreimal die Lippen, um zu sprechen, doch jedesmal erstarben die Worte in seinem Mund.
Der Bediente öffnete abermals die Tür.
»Nun, was gibt es noch?« fragte der Vicomte mit lebhafter Ungeduld.
»Der Kommis wünscht ein Wort mit dem gnädigen Herrn zu sprechen.«
»Dieser Mensch hat nichts mit mir zu sprechen«, rief der Vicomte, »er hat sein Geld und soll gehen.«
Der Kommis erschien hinter dem Bedienten und schlüpfte zwischen ihn und die Tür.
»Verzeihen Sie«, sprach er, »verzeihen Sie, Sie täuschen sich, mein Herr, ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Dann machte er einen Sprung, packte den Vicomte am Kragen und rief: »Ich habe Ihnen zu sagen, daß Sie ein Fälscher sind und daß ich Sie im Namen des Gesetzes verhafte.«
Der Vicomte stieß einen Schreckensschrei aus und verfärbte sich noch mehr.
»Zu Hilfe!« murmelte er. »Zu Hilfe, Doktor! Joseph, ruf meine Leute. Zu Hilfe, zu Hilfe!«
»Zu Hilfe!« rief, aber mit viel stärkerer Stimme, auch der angebliche Kommis. »Herbei, ihr Leute!«
Auf diesen Hilferuf hin öffnete sich die Tür einer Geheimtreppe, und zwei Männer stürzten in das Zimmer des Vicomte.
Es waren zwei Agenten der Sicherheitspolizei.
»Aber wer sind Sie denn?« rief der Vicomte, sich sträubend. »Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir?«
»Herr Vicomte, ich bin V.«, sagte der falsche Kommis. »Und Sie sind gefangen; machen Sie keinen Lärm, keinen Skandal, sondern folgen Sie uns gutwillig.«
Der Name V. war so bekannt, daß ich erschauerte.
»Ihnen folgen«, fuhr der Vicomte fort, der sich immer noch sträubte. »Ihnen folgen, und wohin Ihnen folgen?«
»Bei Gott! Wohin man die Leute Ihrer Art führt, Sie brauchen sich nicht zu erkundigen, Sie dürften das doch wissen: zur Polizeipräfektur!«
»Nie!« rief der Gefangene. »Nie!«
Und mit einer heftigen Anstrengung machte er sich von den beiden Männern, die ihn hielten, los, stürzte zu seinem Bett und ergriff einen türkischen Dolch.
In demselben Augenblick zog der falsche Kommis mit einer Bewegung, die schnell war wie der Gedanke, zwei Taschenpistolen hervor und richtete sie auf den Vicomte.
Aber er hatte sich in der Absicht de Favernes getäuscht, denn de Faverne wandte die Waffe gegen sich selbst. Die zwei Agenten wollten auf ihn stürzen und sie ihm entreißen.