»Ah, es ist wahr«, versetzte V., während er seine Pistolen spannte, »ich hatte es vergessen. Vorwärts!«
Wir gingen die Treppe hinab, der Unglückliche stützte sich jetzt auf meinen Arm, und V. folgte mit seinen zwei Polizisten.
Als wir in den Hof kamen, eilte einer von ihnen auf den Wagen zu und öffnete den Schlag.
Ehe er einstieg, warf der Gefangene einen scheuen Blick nach rechts und links, als wollte er sehen, ob keine Flucht möglich wäre.
Doch in diesem Augenblick fühlte er, daß man ihm etwas zwischen die Schultern setzte; er wandte sich um: Es war der Lauf der Pistole.
Mit einem Sprung stürzte er in den Wagen.
V. bedeutete mir durch ein Zeichen, ich möge einsteigen und den Hintersitz einnehmen.
Es war nicht die geeignete Zeit, Zeremonien zu machen. Ich setzte mich auf den Platz, der mir angewiesen war.
V. sagte auf Rotwelsch ein paar Worte zu seinen Polizisten, die ich nicht verstand, stieg ebenfalls ein und setzte sich auf den Vordersitz.
Der Kutscher schloß den Schlag und fragte: »Zur Polizeipräfektur, nicht wahr, mein Herr?«
»Ja«, antwortete V., »doch woher wissen Sie, wohin wir wollen, mein Freund?«
»Nun, ich habe Sie erkannt«, sagte der Kutscher, »es ist schon das drittemal, daß ich Sie fahre, und stets in Gesellschaft.«
»Da baue man noch auf ein Inkognito«, versetzte V.
Der Wagen rollte den Boulevard entlang, dann die Rue de Richelieu, erreichte den Pont-Neuf, folgte dem Quai des Orfevres, wandte sich nach rechts, fuhr unter ein Gewölbe, drang in eine Art von Gäßchen und hielt vor einer Tür.
Jetzt erst schien der Gefangene aus seiner Erstarrung zu erwachen, auf dem ganzen Weg hatte er kein Wort gesprochen. »Wie«, rief er, »schon da!«
»Ja, Herr Vicomte«, sagte V., »das ist Ihre provisorische Wohnung, sie ist weniger elegant als die in der Rue Taitbout, doch in Ihrem Gewerbe muß man mit Veränderungen rechnen und Philosoph sein.«
Nun öffnete er den Schlag und sprang aus dem Wagen.
»Haben Sie mir noch einen Auftrag zu geben, ehe ich Sie verlasse?« fragte ich den Gefangenen.
»Ja, ja«, erwiderte er, »sie soll nicht erfahren, was vorgefallen ist.«
»Wer, sie?«
»Marie.«
»Die arme Frau! Ich hatte sie vergessen. Seien Sie unbesorgt, ich werde tun, was ich kann, um ihr die Wahrheit zu verbergen.«
»Ich danke, ich danke Ihnen, Doktor. Ach, ich wußte wohl, daß Sie mein einziger Freund sind.«
»Ich warte«, sagte V.
Gabriel seufzte, schüttelte traurig den Kopf und schickte sich an auszusteigen.
Scheinbar um ihm zu helfen, nahm ihn V. beim Arm; beide näherten sich der unseligen Pforte, die sich von selbst öffnete, als hätte sie ihren großen Lieferanten erkannt.
Der Gefangene warf mir einen letzten trübseligen Blick zu, und die Pforte schloß sich hinter ihnen mit einem dumpfen Geräusch.
An demselben Tag verließ Marie Paris und kehrte nach Trouville zurück. Ich sagte ihr nichts, wie ich es dem Vicomte versprochen hatte, doch sie vermutete alles.
15. Kapitel
Bicetre
Sechs Monate waren seit den von mir erzählten Ereignissen vergangen, und mehr als einmal hatte ich mich, sosehr ich mich auch bemühte, sie zu vergessen, in Gedanken mit ihnen beschäftigt, als ich gegen sechs Uhr abends - ich wollte mich eben zu Tisch setzen - folgenden Brief erhielt:
»Mein Herr!
In dem Augenblick, wo er vor dem Thron Gottes erscheinen soll, wohin ihn ein Todesurteil führt, bittet Sie der unglückliche Gabriel Lambert, der eine tiefe Erinnerung für Ihre Güte bewahrt hat, um einen letzten Dienst; er hofft, Sie werden die Gefälligkeit haben, sich vom Präfekten die Erlaubnis, ihn besuchen zu dürfen, geben zu lassen, um noch einmal in seinen Kerker hinabzusteigen. Es ist keine Zeit zu verlieren: Die Hinrichtung findet morgen früh um sechs Uhr statt.
Ich habe die Ehre zu sein
Abbe .
Gefängnispriester.«
Ich hatte einige Gäste zu Tisch.
Ich zeigte ihnen den Brief, erklärte ihnen mit ein paar Worten, worum es ging, und bat einen meiner Gäste, mich als Hausherrn und Gastgeber zu vertreten. Dann stieg ich sogleich in meinen Wagen und fuhr weg.
Wie ich vorausgesehen hatte, machte es mir keine Mühe, in das Gefängnis eingelassen zu werden. Gegen sieben Uhr war ich also in Bicetre.
Es war das erstemal, daß ich über die Schwelle dieses Gefängnisses schritt, das, seitdem die Hinrichtungen nicht mehr auf dem Greve-platz stattfanden, der letzte Aufenthalt der zum Tode Verurteilten geworden war.
Ich hörte auch nicht ohne tiefe Beklemmung, nicht ohne eine gewisse persönliche Angst, von der auch der ehrlichste Mann nicht frei ist, wie sich die mächtigen Türen hinter mir schlossen.
Es war, als wäre hier jedes Wort eine Klage, jedes Geräusch ein Seufzer, man atmete eine andere Luft, und als ich dem Gefängnisdirektor die Erlaubnis, seinen Hausgenossen zu besuchen, vorwies, war ich sicher genauso bleich und zitterte ebenso wie die Gäste, die er gewöhnlich empfängt.
Kaum hatte er meinen Namen gelesen, unterbrach er sich, um mich zum zweitenmal zu begrüßen.
Dann rief er einen Schließer und sagte zu ihm: »Fran^ois, führen Sie den Herrn in die Zelle Gabriel Lamberts, ich habe ihm erlaubt, mit dem Verurteilten allein zu bleiben.«
»In welchem Zustand finde ich den Unglücklichen?« fragte ich.
»Wie ein Kalb, das man auf die Schlachtbank führt, so hat man mir wenigstens gesagt; doch Sie werden es selbst sehen: Er ist so niedergeschlagen, daß man es für unnötig gehalten hat, ihm eine Zwangsjacke anzuziehen.«
Ich seufzte. V. hatte sich in seinen Prophezeiungen nicht getäuscht, und im Angesicht des Todes war Gabriel Lamberts Mut nicht gewachsen.
Nachdem ich dem Direktor zum Dank für sein Entgegenkommen zunickte, folgte ich dem Schließer. Der Direktor setzte seine durch mich unterbrochene Partie Piquet fort.
Wir durchschritten einen kleinen Hof, traten in einen düsteren Gang und stiegen ein paar Stufen hinab.
Wir fanden einen zweiten Gang, in dem Kerkerknechte wachten, die von Minute zu Minute ihr Gesicht an vergitterte Öffnungen drückten.
In diesen Zellen fanden sich die zum Tod Verurteilten, deren letzte Augenblicke man so überwacht, damit sie sich nicht durch Selbstmord dem Schafott entziehen.
Der Schließer öffnete eine von diesen Türen, und ich blieb wie in einem letzten Gefühl des Schreckens unbeweglich stehen.
»Treten Sie ein«, sagte er. »Hier ist es. He! Junger Mann«, fügte er hinzu. »Sie haben Glück gehabt, hier ist der Mann, nach dem Sie verlangten.«
»Wer? Der Doktor?« fragte eine Stimme.
»Ja, mein Herr«, antwortete ich eintretend, »ich bin zu Ihnen gekommen.«
Ich konnte nun mit einem Blick die elende, finstere Nacktheit des Kerkers umfassen.
Im Hintergrund stand ein armseliges Bett, über dem dicke Gitterstangen das Vorhandensein eines Luftloches andeuteten.
Die durch die Zeit und den Rauch geschwärzten Wände waren auf allen Seiten mit Namen beschrieben, welche die Bewohner dieses furchtbaren Ortes eingekratzt hatten. Einer von ihnen, der wohl eine beweglichere Phantasie besaß als die übrigen, hatte das Bild einer Guillotine auf die Wand gezeichnet.
An einem durch eine rauchige Lampe beleuchteten Tisch saßen zwei Männer. Der eine war ein Mann von achtundvierzig bis fünfzig Jahren, dem das weiße Haar das Aussehen eines Greises von siebzig verlieh.