»Ich werde mich bemühen«, erwiderte ich.
»Ah, Doktor, Doktor!« rief der Unglückliche, indem er meine Hand ergriff und die Lippen darauf drückte, ehe ich Zeit hatte, sie zurückzuziehen. »Doktor, ich wußte wohl, daß Sie meine einzige, meine letzte Hoffnung sind.
Und nun verlieren Sie keine Minute mehr, gehen Sie, gehen Sie; sollte sich ein Zufall Ihrem Wunsch, den König zu sehen, widersetzen, so seien Sie im Namen des Himmels beharrlich; bedenken Sie, daß mein Leben an Ihren Worten hängt, bedenken Sie, daß es neun Uhr abends ist und daß es morgen früh um sechs geschehen soll. Neun Stunden zu leben, mein Gott! Wenn Sie mich nicht retten, nur noch neun Stunden zu leben!«
»Um elf werde ich in den Tuilerien sein.«
»Und warum erst um elf Uhr? Warum nicht auf der Stelle? Sie verlieren zwei Stunden, wie mir scheint.«
»Weil sich der König gewöhnlich um elf zurückzieht, um zu arbeiten, und weil er bis zu dieser Stunde im Empfangssalon weilt.« »Ja, und es finden sich dort hundert Personen, die plaudern, lachen und des andern Tages sicher sind, die nichts davon wissen, daß es einen Menschen ihresgleichen gibt, der sich in seinem Todeskampf zerarbeitet, in einem Kerker, bei dem Schein dieser Lampe, im Angesicht dieser Mauern, die bedeckt sind mit Namen von Leuten, die gelebt haben, wie er in diesem Augenblick lebt, und dann am anderen Tag tot waren. Sie wissen das alles nicht, diese Leute, sagen Sie ihnen, daß es so ist, damit sie Mitleid haben.«
»Ich werde tun, was ich kann, seien Sie unbesorgt.«
»Und sollte der König zögern, so wenden Sie sich an die Königin; sie ist eine fromme Frau, sie muß gegen die Todesstrafe sein! Wenden Sie sich an den Herzog von Orleans, jeder spricht von seinem guten Herzen. Er sagte eines Tages, wie man mir versichert hat, wenn er den Thron bestiege, sollte nicht eine einzige Hinrichtung mehr stattfinden. Wenn Sie sich an ihn wenden würden statt an den König?«
»Beruhigen Sie sich, ich werde tun, was nur immer zu tun ist.«
»Aber haben Sie denn wenigstens Hoffnung?«
»Die Gnade des Königs ist groß, ich hoffe auf sie.«
»Gott höre Sie«, rief er, die Hände faltend. »Oh, mein Gott! Rühren Sie das Herz desjenigen, der mich mit einem Wort töten oder begnadigen kann.«
»Gott befohlen mein Herr.«
»Gott befohlen? Was sagen Sie da? Werden Sie nicht wiederkommen?«
»Ich werde wiederkommen, wenn es mir gelungen ist.«
»Oh, daß ich Sie in dem einen oder dem anderen Fall wiedersehen würde! Mein Gott, wie schrecklich wäre es, sollte ich Sie nicht mehr sehen. Bis zum Fuß des Schafotts würde ich Sie erwarten, und welch eine Marter ist dieser Zweifel! Kommen Sie zurück, ich flehe Sie an!«
»Ich werde zurückkommen.«
»Gut«, sagte der Verurteilte, den seine Kräfte von dem Augenblick an, wo er dieses Versprechen von mir verlangt hatte, zu verlassen schienen. »Gut, ich erwarte Sie!« Und er sank schwerfällig auf seinen Stuhl nieder. Ich ging zur Tür.
»Hören Sie«, rief er, »schicken Sie mir meinen Vater, ich will nicht allein bleiben; die Einsamkeit ist der Anfang vom Tod.«
»Ich werde tun, was Sie verlangen.«
»Warten Sie; bis wann, glauben Sie, werden Sie zurück sein?«
»Ich weiß es nicht, doch ich hoffe, gegen ein Uhr morgens.«
»Soeben hat es halb zehn geschlagen, es ist unglaublich, wie schnell die Stunden vorübergehen, seit zwei Tagen besonders! In drei Stunden also, nicht wahr?«
»Ja.«
»Gehen Sie, gehen Sie; oh, ich würde Sie am liebsten zugleich bei mir behalten und gehen sehen ... Auf Wiedersehen, Doktor, auf Wiedersehen. Ich bitte Sie, schicken Sie mir meinen Vater.«
Die Empfehlung war unnötig: Sobald mich der arme Greis an der Tür erscheinen sah, stand er auch schon auf.
Der Wärter, der mich herausließ, ließ ihn hinein, und die Tür schloß sich wieder hinter ihm.
Ehe ich mich aus dem Gefängnis entfernte, sagte ich dem Direktor, ich würde wahrscheinlich im Verlauf der Nacht zurückkehren.
Mein Wagen erwartete mich vor der Tür; ich fuhr nach Hause, fand meine Freunde immer noch lustig beieinander und erinnerte mich der Worte des Unglücklichen: »Es gibt in diesem Augenblick Menschen, die lachen und nicht daran denken, daß sich einer ihresgleichen im Todeskampf zerarbeitet.«
Ich war so bleich, daß sie, als sie mich erblickten, einen Schrei des Erstaunens, beinahe des Schreckens ausstießen und mich fragten, ob mir ein Unfall zugestoßen wäre.
Ich erzählte ihnen, was vorgefallen war, und am Ende meiner Erzählung waren sie beinahe so bleich wie ich.
Dann trat ich in mein Kabinett und kleidete mich um.
Als ich herauskam, war das Spiel zu Ende.
Sie standen und sprachen miteinander; es hatte sich ein großer Streit über die Todesstrafe erhoben.
Es schlug Mitternacht, als ich wieder nach Bicetre kam; der König hatte an den Rand des Gesuches geschrieben: »Ich verwandle die Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit.«
Der Direktor saß noch immer bei seiner Partie Piquet.
Ich sah, daß ihm die Störung, die ich ihm verursachte, sehr lästig war.
»Ich bin es«, sagte ich. »Sie haben mir zu dem Verurteilten zurückzukehren erlaubt, und ich mache Gebrauch von dieser Erlaubnis.«
»Tun Sie es«, erwiderte er. »Fran^ois, führen Sie den Herrn.«
Dann wandte er sich mit einem Lächeln tiefer Befriedigung zu seinem Mitspieler um und sagte zu ihm: »Vierzehn Damen und sieben Piques, was sagen Sie dazu?«
»Bei Gott!« antwortete der andere mit einer äußerst ärgerlichen Miene, »ich glaube, ich habe nur fünf Carreaux.«
Mehr hörte ich nicht.
Es ist unglaublich, wieviel verschiedenartige Gemütsbewegungen ein und dieselbe Stunde und ein und derselbe Ort einschließen.
Ich stieg so rasch wie möglich die Treppe hinab.
»Ich bin es!« rief ich, als ich vor der Tür stand. »Ich bin es.«
Ein Schrei antwortete auf den meinen.
Die Tür öffnete sich.
Gabriel Lambert war von seinem Sitz aufgesprungen.
Er stand mitten in seinem Kerker, bleich, die Haare gesträubt, die Augen starr, die Lippen zitterten, und er wagte es nicht, mich nach dem Erfolg zu fragen.
»Nun, wie steht es?« murmelte er endlich.
»Ich habe den König gesehen, er schenkt Ihnen das Leben.«
Gabriel gab einen zweiten Schrei von sich, griff mit den Armen umher, als wollte er eine Stütze suchen, und fiel ohnmächtig vor seinem Vater nieder, der ebenfalls aufgestanden war und nicht einmal die Arme ausstreckte, um ihn zu halten.
Ich bückte mich, um dem Unglücklichen beizustehen.
»Einen Augenblick«, sagte der Greis, indem er mich zurückhielt, »unter welcher Bedingung?«
»Wie? Unter welcher Bedingung?«
»Sie haben gesagt, der König schenke ihm das Leben, doch unter welcher Bedingung begnadigt er ihn?«
Ich suchte eine Ausflucht.
»Lügen Sie nicht, mein Herr«, sprach der Greis.
»Unter welcher Bedingung?«
»Die Todesstrafe ist in lebenslängliche Zwangsarbeit verwandelt.«