Thomas Lambert richtete sich in seiner ganzen Größe auf und ging festen Schrittes auf seinen Stock zu, der in einer Ecke stand.
»Was machen Sie?« fragte ich.
»Er bedarf meiner nicht mehr. Ich war gekommen, um ihn sterben, nicht ihn brandmarken zu sehen.
Das Schafott hätte ihn gereinigt, aber er hat das Bagno vorgezogen.«
»Mein Herr«, sagte ich.
»Lassen Sie mich gehen«, sprach der Greis mit so würdevoller Miene, daß ich zur Seite trat und ihn nicht durch ein einziges Wort zurückzuhalten versuchte.
Er entfernte sich ernsten, langsamen Schrittes und verschwand in dem Gang, ohne den Kopf noch ein einziges Mal nach seinem Sohn umzuwenden.
Es ist wahr, als Gabriel Lambert wieder zu sich kam, fragte er nicht einmal, wo sein Vater wäre.
Zwei Tage später las ich in der Zeitung von der Strafverwandlung.
Dann hörte ich nicht mehr von ihm sprechen, und ich weiß nicht, in welches Bagno man ihn gebracht hat.
Hier endete der Bericht Fabiens.
16. Kapitel
Der Gehenkte
Als ich gegen Ende Juni 1841 von einer meiner Reisen nach Italien zurückkam, fand ich wie gewöhnlich eine große Anzahl Briefe, die mich erwarteten.
Im allgemeinen und zur Erbauung derer, die mir schreiben, möchte ich sagen, daß ich die Durchsicht immer sehr schnell vorgenommen habe: Die Briefe, die ich als von Freunden stammend erkenne, werden beiseite gelegt und gelesen; die anderen werfe ich unbarmherzig ins Feuer.
Einer von diesen Briefen jedoch, mit dem Poststempel Toulon, dessen Handschrift durchaus keine Erinnerung in mir erweckte, erhielt Begnadigung wegen seiner seltsamen Adresse.
Die Adresse lautete: »Herrn Alexandre Dumas, dramatischen Schriftsteller in Europa, im Vorübergehen im Hotel de Paris nachzusehen, ob er nicht etwa dort ist.«
Ich entsiegelte den Brief und suchte den Namen des Schmeichlers, der ihn mir geschickt hatte. Er war mit Rossignol unterzeichnet. Zunächst schien mir dieser Name so unbekannt wie die Handschrift, doch als ich den Stempel betrachtete, begann ich klarer zu sehen; die ersten Worte nahmen übrigens jeden Zweifel.
Er kam von einem der zwölf Galeerensklaven, die in meinem Dienst gewesen waren, während ich die kleine Bastide im Fort Lamalgue bewohnte. Da dieser Brief nicht nur im Zusammenhang mit der von mir soeben erzählten Geschichte steht, sondern sie zu Ende führt, will ich ihn hier der Einfachheit dem Leser vorlegen.
»Herr Dumas!
Verzeihen Sie einem Menschen, den sein Unglück für einen Augenblick von der Gesellschaft getrennt hat (ich bin, wie Ihnen bekannt, nur für eine bestimmte Zeit hier), daß er so kühn ist, an Sie zu schreiben; doch seine Absicht wird ihn entschuldigen; er unternimmt es in der Hoffnung, Ihnen einen Gefallen zu tun.«
Das Vorwort war, wie man sieht, ermutigend; ich fuhr fort:
»Sie werden sich gewiß Gabriel Lamberts erinnern, den man den Doktor nannte; Sie wissen wohl, der, welcher im Fort Lamalgue das ausgezeichnete Frühstück nicht holen wollte, mit dem Sie uns zu bewirten die Güte hatten. Der Dummkopf!
Sie müssen sich seiner erinnern, denn Sie erkannten in ihm einen Menschen, den Sie einst in der großen Welt getroffen hatten, und er hatte Sie auch erkannt, und das beschäftigte Sie so sehr, daß Sie den armen Vater Chiverny, den Aufseher, der trotz seines boshaften Gesichtes ein braver Mann ist, mit Fragen bestürmten.
Hören Sie also, was ich Ihnen über Gabriel Lambert zu sagen habe.
Als Gabriel hier eingeliefert wurde, bekam er einen guten Burschen namens Accacia als Kettenkameraden, der wegen einer Albernheit bei uns war.
Vier Jahre nach Ihrem Aufenthalt in Toulon, nämlich im Jahre 1838, nahm Accacia eines Morgens von uns Abschied.
Am Abend zuvor war mein Kettenkamerad zufällig gestorben.
Infolge beider Ereignisse waren Gabriel und ich allein, und man kettete uns zusammen.
Gabriel hatte, wenn Sie sich erinnern, nicht das lieblichste Aussehen.
Die Nachricht, daß ich mit ihm zusammengeschlossen werden sollte, berührte mich also nicht gerade auf das angenehmste.
Ich bedachte indessen, daß ich nicht in Toulon war, um nach meinem Wohlbehagen zu leben, und da ich Philosoph bin, fügte ich mich.
Am ersten Tag sprach er mit mir überhaupt nicht, was mich ungemein langweilte, insofern ich meiner Natur nach redselig bin; mich beunruhigte das um so mehr, als Accacia mehr als einmal mit mir über sein Mißgeschick, an einen Stummen gekettet zu sein, gesprochen hatte.
Ich dachte, ich, der ich auf zwanzig Jahre hier bin und folglich noch zehn Jahre durchzumachen hatte (mein Urteil, ein sehr ungerechtes Urteil, das sicherlich kassiert worden wäre, wenn ich Fürsprecher gehabt hätte, ist vom 24. August 1828), würde mit Gabriel zehn nur wenig ergötzliche Jahre vor mir haben.
In der Nacht überlegte ich mir deshalb, was ich tun sollte; da fiel mir das Mittel ein, das der Fuchs gebraucht hat, um den Raben zum Sprechen zu bringen, und ich sagte, als es Tag geworden war: >Herr Gabriel, erlauben Sie, daß ich mich nach Ihrer Gesundheit erkundige?<
Er schaute mich erstaunt an, denn er wußte nicht, ob ich im Ernst sprach oder spottete.
Ich bemühte mich um den größten Ernst.
>Wie, nach meiner Gesundheit?< erwiderte er.
Das war, wie Sie sehen, schon etwas. Ich hatte ihm die Zähne aufgebrochen.
>Ja, nach Ihrer Gesundheit<, versetzte ich. >Sie schienen eine schlimme Nacht gehabt zu haben.<
Er seufzte.
>Ja, schlimm<, sagte er. >Doch so sind alle meine Nächte.<
>Teufel!< rief ich.
Ohne Zweifel täuschte er sich im Sinn meines Ausrufs, denn nach kurzem Stillschweigen fuhr er fort: >Seien Sie übrigens unbesorgt;
wenn ich nicht schlafe, werde ich wenigstens ruhig sein und versuchen, Sie nicht aufzuwecken.<
>Geben Sie sich meinetwegen nicht soviel Mühe, Herr Lambert<, erwiderte ich, >ich fühle mich so geehrt, Ihr Kettenkamerad zu sein, daß ich gern einige Unbequemlichkeiten ertragen würde.<
Gabriel schaute mich mit neuem Erstaunen an.
So hatte sich Accacia nicht benommen, um ihn zum Sprechen zu bringen, er hatte ihn geschlagen, bis er gesprochen hatte; doch obgleich er ein Resultat erreicht hatte, so war doch dieses Resultat nie befriedigend gewesen, und es hatte immer ein gespanntes Verhältnis zwischen beiden geherrscht.
>Warum sprechen Sie so mit mir, mein Freund?< fragte mich Gabriel Lambert.
>Weil ich weiß, mit wem ich spreche, mein Herr, und weil ich kein Bauernlümmel bin, das dürfen Sie mir glauben.<
Gabriel schaute mich mit einer mißtrauischen Miene an, aber ich lächelte mit solcher Freundlichkeit, daß ein Teil seines Argwohns zu verschwinden schien.
Es kam die Frühstücksstunde. Man brachte uns wie gewöhnlich unseren Napf, doch statt sogleich meinen Löffel in die Suppe zu tauchen, wartete ich achtungsvoll, bis er zu Ende gegessen hatte, um anzufangen. Diese Aufmerksamkeit rührte ihn so sehr, daß er mir nicht nur den größten Teil, sondern auch die besseren Stücke überließ.
Ich sah, daß man in dieser Welt durch Höflichkeit gewinnen kann.
Kurz, nach acht Tagen waren wir, abgesehen von einer gewissen stolzen Miene, die er nicht ablegte, die besten Freunde.
Leider hatte ich dadurch, daß ich meinen Gefährten zum Reden brachte, nicht viel gewonnen: Seine Gespräche waren äußerst schwermütig, und ich bedurfte wahrhaftig der ganzen natürlichen Heiterkeit meines Geistes, daß ich mich nicht selbst in einer solchen Schule verdarb.