Kapitel 13
Der Drachen an der Tür stritt sich mit jemand anderem, als ich hineinging. Ich hielt ihr den Ausweis so dicht unter die Nase, daß sie ihn als solchen erkennen konnte, zog ihn aber sofort wieder zurück. Sie sah kaum in meine Richtung, während ihr Mundwerk den unglücklichen Missetäter fertigmachte, und ich ging an ihr vorbei die Treppe hinauf, als wohnte ich dort.
Stephens zellenartiges Zimmer kam mir wie eine Stätte der Zuflucht vor.
Ich schälte mich aus meiner Jacke, zog einen Pullover aus und ließ mich dankbar auf sein Bett plumpsen.
Eine geraume Zeit lag ich nur da und wartete auf das Zurückfluten dessen, was man Lebenskraft nennen könnte. Durch häufige Krankheiten und die unvermeidlichen Püffe, die das Landleben mit sich bringt, ganz zu schweigen von den Stürzen in Hindernisrennen, war ich ziemlich erfahren in der Art und Weise, mit der der Körper mit Unglücksfällen fertig wird. Ich war an die Mattigkeit gewöhnt, die ihn ruhigstellte, während er sich selber half, und die schließlich in ein neues Gefühl von Tatkraft münden würde. Ich wußte, daß die wilden Schmerzen in meinen Fingern noch wenigstens zwölf Stunden lang schlimmer, danach aber langsam besser werden würden. Gehirnerschütterungen hatte ich oft genug gehabt; die Betäubung in meinem Kopf würde sich langsam heben, wie Nebel, und es würde nur eine Beule zurückbleiben.
So würde es jedenfalls sein, wenn ich mir Zeit nahm und Ruhe gönnte, aber beides würde mir wahrscheinlich fehlen. Besser das Beste aus dem machen, was ich hatte.
Besser schlafen: Aber ein Faktor, an den ich nicht gewöhnt war und mit dem ich mich nie zuvor hatte auseinandersetzen müssen, hielt mich wach. Die tödliche Bedrohung.
Ein glückliches Entkommen würde es nicht mehr geben, das vierte Zusammentreffen würde das letzte sein. Wenn meinen Angreifern in den letzten beiden Tagen eines klargeworden war, dann die Notwendigkeit zu töten, und zwar schnell. Kein Unsinn mehr mit Pferdetransportern, Entführungen und eisigen Flüssen. Das nächstemal . wenn es ein nächstes Mal gab ... würde ich tot sein, bevor ich wußte, was mir geschah. Es reichte, dachte ich, einen zum Flughafen zu jagen ... die zu schlagende Schlacht jemand anderem zu überlassen.
Nach einer Weile setzte ich mich auf und zog das Fernschreiben aus der Tasche.
Las noch mal die Seiten über Hans Kramer durch.
Acht Schulen, Ärzte, Hospitäler und Krankenhäuser. Kränklich, wie ich. Und, wie ich, Erfolge auf Ponys und Pferden. Wie ich Reisen ins Ausland zu pferdesportlichen Ereignissen: ich zur furchterregenden Pardubitzer
Steeplechase in der Tschechoslowakei und zum Maryland Hunt Cup über feste Hindernisse in Amerika, und er zu den wichtigsten Turnieren in Europa: Italien, Frankreich, Holland und England.
Gestorben an einem Herzanfall im September in Burleigh, im Alter von sechsunddreißig Jahren. Die Leiche eingeäschert.
Ende der Geschichte.
Ich nahm die Brille ab und rieb mir müde die Augen. Wenn irgendein nützlicher Schluß aus all den unerbetenen Einzelheiten zu ziehen war, so blieb er mir in meinem gegenwärtigen Geisteszustand verborgen. Ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, indem ich ihn schüttelte, aber das nützte ungefähr so viel, wie wenn man alten Port mit dem Teelöffel umrührt. Partikel von Bodensatz verstopften meine Gedanken, und kleine, grüne Punkte schwammen vor meinen geschlossenen Augen.
Ich las den Rest des Fernschreibens noch zweimal, hatte aber am Schluß kaum ein Wort begriffen.
Also noch mal von vorn.
»Juri Iwanowitsch Chulitskij, Architekt, Telefonnummer zwar bekannt, wird aber hier wiederholt ... vergangenen August und September einer der russischen Beobachter in England. Besuchte davor Olympiade in Montreal. Berater bei erforderlicher Bautätigkeit für die olympischen Reiterspiele in Moskau.«
Ja, das wußte ich alles.
»Igor Naumowitsch Teljatin, Koordinator für Sportübertragungen. Keine Telefonnummer bekannt. Russischer Beobachter im August und September. Seine Aufgabe: sich die günstigste Aufstellung der Fernsehkameras anzusehen. Zu lernen, welche Ausrüstungen absolut notwendig und welche nur wünschenswert sind; festzustellen, wie der Welt am besten ein Bild der sowjetischen Tüchtigkeit zu vermitteln ist.
Sergej Andrejewitsch Gorschkow. Keine Telefonnummer bekannt. Russischer Beobachter, erklärte, Kontrolle von Massenansammlungen bei Reitveranstaltungen studieren zu wollen, wo der Fluß der Zuschauermengen ein Problem darstelle. Von zuverlässiger Quelle wird er als KGB-Oberst bezeichnet, Verfechter der harten Linie, mit tiefer Verachtung für westliche Wertvorstellungen. Seit seinem Besuch wurden Informationen bekannt, daß er in der Vergangenheit versuchte, Mitglieder des Botschaftspersonals und deren Besucher, Familien und Freunde zu kompromittieren. Von einer Kontaktaufnahme wird ernstlich abgeraten.«
Ich legte das Schreiben zur Seite. Hughes-Beckett, wenn er es tatsächlich war, der das nicht unterzeichnete Fernschreiben ohne Absender geschickt hatte, arbeitete wieder mit seinem alten Trick: scheinbarer Hilfsbereitschaft, während er einem Fehlschlag Vorschub leistete. Er überflutete mich mit nutzlos erscheinenden Informationen und wollte mich gleichzeitig von demjenigen fernhalten, der wirklich eine Bedrohung für Johnny Farringford darstellen konnte.
Hughes-Beckett hatte nicht die leiseste Ahnung, was tatsächlich vorging, dachte ich verärgert.
Aber um fair zu sein: Woher sollte er es wissen, wenn ich es ihm nicht sagte?
Aber das war gar nicht so einfach. Alles, was von der Botschaft per Telex hinausging, mußte Malcolm Herricks Informanten passieren: Und seit Malcolm wußte, daß Oliver mir geraten hatte, mein Fernschreiben direkt vom Kutusowski-Prospekt aus zu schicken, hatte er sehr wahrscheinlich auch dort seine Vorkehrungen getroffen. Und wenn es einen Platz gab, wo ich meine Abenteuer nicht gern gesehen hätte, dann war es die Titelseite von The Watch.
Dann gab es noch das Telefon, das möglicherweise abgehört wurde, und die Post, die langsam war und womöglich verlorenging.
Blieb noch Ian, der, wenn ich richtig verstand, wahrscheinlich seinen eigenen sicheren heißen Draht zu den Ohren zu Hause hatte, aber vielleicht nicht die Vollmacht, ihn jedem x-beliebigen Bürger zur Verfügung zu stellen.
Außerdem lauerte in meinem Hinterkopf noch immer ein Zweifel an Ian als zuverlässigem Bundesgenossen.
Stephens Freund erschien pflichtschuldigst, um den Ausweis zu holen, und kurz nach elf erschienen Stephen und Gudrun bester Laune, umgeben von Zwiebelduft.
»Zwiebeln!« rief Gudrun. »Nach vier Monaten endlich heute wieder in den Läden. Dafür keine Eier. Irgendwas ist es immer.«
»Möchten Sie Tee?« fragte Stephen und machte sich daran, ihn zu kochen.
Beide umgab die Wärme eines angenehm verbrachten Abends, und merkwürdigerweise deprimierte mich das nur noch mehr, wie einen Geizhals das Weihnachtsfest.
»Was Sie brauchen«, meinte der zurückkehrende Stephen, mit einem Blick die richtige Diagnose stellend, »ist ein halber Liter Wodka und ein paar gute Nachrichten.«
»Warum rücken Sie nicht damit heraus?« fragte ich.
»Nehmen Sie einen Keks.«
Er förderte ein Päckchen aus den Tiefen des Bücherregals zutage und machte auf dem Tisch Platz für die Becher. Dann schien ihm etwas einzufallen, denn er bastelte aus Schnur und Reißzwecken eine Vorrichtung, auf die er seinen Wecker fädelte, der nun laut tickend an der Wand hing. Erst nach Beendigung dieser Prozedur fiel mir ein, daß an dieser Stelle die Wanze versteckt war.
»Besser als nichts, wenn sie zuhören«, sagte er vergnügt. »Und wenn der Wecker klingelt, platzt ihnen das Trommelfell.«
Der Tee tat wahrscheinlich mehr für mich als der nicht vorhandene Wodka. Ein gewisses Maß von Ruhe breitete sich in meinem Nervensystem aus.
»Alle Besucher müssen bis halb elf das Haus verlassen haben«, bemerkte Stephen beiläufig.