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»Wird das nachgeprüft?«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

Nach einem halben Becher Tee kehrte etwas Ordnung in meine Gedanken zurück. Sehr willkommen: wie ein lang vermißter Freund.

»Gudrun«, sagte ich träge, »würden Sie ein Auge für mich riskieren?«

»Wie bitte?«

Ich stellte den Becher hin und griff nach dem Telex, wobei sie den gegenwärtigen Zustand der Hand bemerkte, die ich nicht benutzt hatte.

»Oh!« sagte sie. »Das muß aber weh tun.«

Stephen hob den Blick von meinen Fingern zu meinem Gesicht. »Sind sie gebrochen?« fragte er.

»Keine Ahnung.«

Ich konnte sie kaum bewegen, was aber gar nichts bewies. Sie waren dick angeschwollen und blau. Bestimmt würden die Nägel schwarz werden, wenn sie nicht überhaupt abgingen. Es war wirklich nicht schlimmer, als wenn einem ein Pferd auf die Hand tritt, und das war für mich nichts Neues. Ich lächelte schief in ihre entsetzten Gesichter und reichte Gudrun das Telex.

»Würden Sie den ganzen Kram über Hans Kramer lesen und sehen, ob Ihnen etwas auffällt, was mir entgangen ist? Er war Deutscher, und Sie sind Deutsche, vielleicht sehen Sie einen Zusammenhang, den ich übersehen habe.«

»Ich will’s versuchen«, sagte sie zweifelnd, las aber aufmerksam bis zum bitteren Ende.

»Was fällt Ihnen auf?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht sehr viel.«

»Er ist in acht verschiedene Schulen gegangen. Ist das normal?«

»Nein.« Sie runzelte die Stirn. »Nur wenn seine Familie oft umgezogen ist.«

»Sein Vater war und ist ein Großindustrieller in Düsseldorf.«

Sie las den Absatz über die Schulen nochmals durch und sagte schließlich: »Ich glaube, eine der Schulen ist auf Kinder spezialisiert, die . anders sind. Epileptiker etwa oder wenn sie ...«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, weil ihr das Wort fehlte.

»Gestört sind?«

»Richtig. Aber sie nehmen auch Kinder, die ein besonderes Talent haben und eine spezielle Ausbildung brauchen. Sportler, zum Beispiel. Vielleicht war Kramer dort, weil er ein besonders guter Reiter war.«

»Oder weil sieben andere Schulen ihn rausgeschmissen haben?«

»Ja, vielleicht.«

»Was ist mit den Ärzten und Krankenhäusern?«

Mit gespitzten Lippen ging sie die Liste erneut durch und schüttelte dann den Kopf.

»Könnten sie beispielsweise etwas mit Orthopädie zu tun haben?«

»Knochen und so was?«

»Ja.«

Ihre Augen kehrten zu der Liste zurück, aber es blieb beim Nein.

»Oder könnte es mit Herzkrankheiten zu tun haben? Ist einer der Ärzte oder ein Krankenhaus auf Brustkorbchirurgie spezialisiert?« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte sie.

Ich dachte nach. »Oder vielleicht mit Psychiatrie?«

»Es tut mir schrecklich leid, aber ich weiß nicht viel ...« Plötzlich weiteten sich ihre Augen und glitten hastig über die Liste.

»Also so was .«

»Was ist los?«

»Die Heidelberger Universitätsklinik.«

»Was ist damit?«

»Wissen Sie das nicht?« Mein Gesicht sagte es ihr. »Hans Kramer war neunzehnhundertsiebzig drei Monate dort, steht hier.«

»Ja«, sagte ich. »Und was ist daran so Besonderes?«

»Neunzehnhundertsiebzig . Da arbeitete ein Arzt namens Wolfgang Huber dort. Angeblich war er ganz groß im Zurechtbiegen . von gestörten Kindern aus reichen Familien. Keine kleinen Kinder ... Teenager und Heranwachsende in unserem Alter. Menschen, die heftig gegen ihre Eltern rebellierten.«

»Bei Hans Kramer scheint er Erfolg gehabt zu haben«, sagte ich. »Diese Klinik ist doch die letzte auf der Liste, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Gudrun. »Aber Sie verstehen nicht.«

»Erklären Sie es mir.«

Sie konnte kaum die Sätze bilden, so intensiv dachte sie nach. »Dr. Huber brachte ihnen bei, daß sie, um geheilt zu werden, das System zerstören müßten, das sie so fühlen ließ, wie sie fühlten. Er sagte ihnen, sie müßten die Welt ihrer Eltern zerstören . Er nannte es Terrorismustherapie.«

»Mein Gott.«

»Und ... und ...« Gudrun schnappte förmlich nach Luft. »Ich weiß nicht, was für eine Wirkung das auf Hans Kramer hatte ... aber ... Dr. Huber lehrte seine Schüler bewußt ... den Spuren von Ulrike Meinhof und Andreas Baader zu folgen.«

Die Zeit stand still, wie man so sagt.

»Haben Sie ein Gespenst gesehen?« fragte Stephen.

»Ich habe ein Muster gesehen ... und einen Plan.«

Die Lehren des Dr. Wolfgang Huber, so nahm ich an, waren eine Art extremer Erweiterung der Theorien, die hinter der kommunistischen Revolution gestanden hatten. Zerstöre das korrupte kapitalistische System, und du erhältst eine saubere, heile, von Arbeitern regierte Welt. Ein verführerischer, idealistischer Traum, der stets am meisten auf die Intellektuellen der Mittelklasse wirkte, die sowohl den Verstand als auch die Mittel hatten, ihm nachzuhängen.

Sogar in den Händen von Visionären hatte diese Doktrin viele Tote gefordert. Doch Leute wie Dr. Huber hatten ihr Evangelium nicht denkenden Erwachsenen gepredigt, sondern bereits verhaltensgestörten Jugendlichen, und das Resultat waren, in sich erweiternden Kreisen, die Baader-Meinhof-Sympathisanten, der palästinensische Schwarze September, die Irisch-Republikanische Armee, die Argentinische ERP und die japanische rote Armee gewesen, mit unzähligen Abkömmlingen wie den Kroaten, den Süd-Molukkern und den Basken.

Bei der Olympiade in München war sich die Welt mit einem Schock der Existenz der aufgehenden Saat bewußt geworden.

Acht Jahre später, bei der Moskauer Olympiade, plante jemand, die Ernte einzubringen.

Kapitel 14

Stephen überließ mir sein Bett und ging zu Gudrun, was beiden recht zu sein schien, und mir natürlich auch. Ausländische Studenten wurden buchstäblich ermutigt, miteinander zu schlafen, sagte er sardonisch, damit sie nicht herumliefen und die Einheimischen belästigten.

Ich fröstelte viel, und gleichzeitig war mir heiß, was nichts Gutes verhieß.

Ich schlief nicht viel, aber das spielte keine Rolle. Meine Hand puckerte heftig, aber mein Kopf war klar, und so war es mir bedeutend lieber als andersherum. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Überlegungen und Vermutungen und kehrte immer wieder zu dem Problem des morgigen Tages zurück. Ich mußte ganz entschieden Schritte unternehmen, um auf Dauer am Leben zu bleiben.

Am Morgen holte Stephen Tee, lieh mir seinen Rasierapparat, und entschwand vergnügt zu einem Studentenfrühstück.

Er kehrte mit etwas zurück, das wie leere Hamburgersemmeln aussah, und fand mich beim Studium der langen Buchstabenreihe auf dem Telexumschlag.

»Entziffern Sie das chemische Zeug?« fragte er.

»Ich versuche es.«

»Und wie kommen Sie voran?«

»Ich weiß nicht genug«, sagte ich. »Hören Sie ... als das alles auf russisch und deutsch geschrieben war, wurde es da übersetzt? Ich meine . sind Sie sicher, daß es genau das heißen soll?«

»Es ist nicht übersetzt worden«, sagte Stephen. »Es waren diese Buchstaben, in dieser Reihenfolge, aber in

deutschen Druckbuchstaben . Die russische Version war mehr oder weniger phonetisch dasselbe, aber im russischen Alphabet gibt es mehr Buchstaben, also haben wir sie den deutschen Buchstaben angeglichen ... war das richtig?«

»Ja«, sagte ich. »Sehen Sie, wo hier steht >Antagonist<.«

»Hmm.«

»Ist das Wort ins Russische oder Deutsche übersetzt worden? Oder stehen die Buchstaben anta etc. im deutschen Text?«

»Es ist nicht übersetzt worden, weil Antagonist in allen drei Sprachen fast dasselbe Wort ist.«

»Danke.«

»Hilft Ihnen das?«

»Ja, in gewisser Weise.«

»Sie überraschen mich.«

Wir bestrichen die Hamburgersemmeln mit Butter, teilten sie und tranken Tee, und hin und wieder hustete ich unheilverkündend hohl.