Zum achten Stock hinauf, vorbei an der wachsamen Dame und den Korridor entlang ... die Tür zu meinem Zimmer stand auf.
Zimmermädchen?
Nicht das Zimmermädchen. Im Zimmer stand Frank.
Mit dem Rücken zur Tür, über das Regal am Fenster gebeugt und etwas in seiner Hand betrachtend.
»Hallo, Frank«, sagte ich.
Erschreckt fuhr er herum; in der Hand hatte er die Matroschka. Intakt, wie ich sah, hütete sie ihre Geheimnisse. Seine Finger waren noch ganz verkrampft von der Anstrengung, sie zu öffnen.
»Äh ...« machte er. »Sie waren nicht beim Frühstück. Ich ... äh ... wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Nach gestern abend. Wo Sie doch in den Fluß gefallen sind, meine ich ...«
Gar nicht übel für eine Geschichte aus dem Stegreif, dachte ich.
»Ich war auf der Rennbahn bei der Morgenarbeit«, sagte ich und spielte damit das Spiel, das jeder spielen konnte, der ein Lügenmaul hatte.
»Na fein«, sagte er, lockerte seinen Griff, stellte die bemalte Holzpuppe wieder auf das Regal und produzierte sein arglosestes Schullehrer-Lachen. »Natascha hat sich Sorgen gemacht. Soll ich ihr sagen, Sie kommen zum Mittagessen?«
Mittagessen . das prosaisch Normale inmitten eines Minenfeldes.
»Warum nicht?« sagte ich. »Und ich bringe einen Gast mit.«
Frank warf Stephen einen unverhüllt ablehnenden Blick zu und entfernte sich; und ich ließ mich etwas zittrig auf dem Sofa nieder.
»Machen Sie uns was zu trinken«, bat ich.
»Scotch oder Wodka?« fragte er, zog die am Morgen gekaufte Flasche aus der Manteltasche und stellte sie auf das Regal.
»Scotch.«
Ich schluckte damit zwei Pillen aus der Apotheke herunter, allerdings ohne merkliches Ergebnis.
Ich sah auf die Uhr, die wunderbarerweise trotz des Bades wieder tickte. Halb zwölf. Ich griff zum Telefon.
»Ian?« sagte ich. »Wie geht’s dem Kater?«
Dem Klang nach besser. Bestimmt hatte er ihn vor einer Stunde mit einem weiteren Schluck bekämpft. Ich sagte, ich könne es nun doch nicht vor dem Essen schaffen und wie es wäre, wenn er sich gegen sechs zu mir in mein Hotelzimmer schleppen würde?
Schleppen, meinte er, sei sicher das richtige Wort: Aber er würde kommen.
Stephen tastete die Wände mit dem Recorder ab, auf der Suche nach der heiklen Stelle. Ich zeigte sie ihm, aber wieder ertönte kein Pfeifen. Und dann, als er gerade aufgeben wollte, begann es.
»Tatsächlich angeknipst«, murmelte er.
»Machen Sie uns ein bißchen Musik.«
Er zog die drei Kassetten aus seinen unergründlichen Manteltaschen und legte eine feurige Wiedergabe von Fürst Igor ein.
»Was jetzt?«
»Ich habe ein paar Paperbacks mitgebracht . welches wollen Sie?«
»Und Sie?« fragte er, mit einem Blick auf die Titel.
»Trinken und denken.«
So lauschte also die Wanze eine Stunde, wie Stephen zu den Klängen von Borodin die Seiten umblätterte, und ich lauschte in meinem Kopf allem, was ich in England und Moskau gehört hatte, und versuchte einen Pfad durch das
Labyrinth zu finden.
Das Mittagessen kam mir ganz unwirklich vor.
Die Wilkinsons waren da und Frank. Frank hatte den Wilkinsons nicht erzählt, wie er mir am gestrigen Abend das Leben gerettet hatte, und benahm sich alles in allem so, als sei nichts dergleichen je passiert. Was er von meinem Schweigen zu diesem Thema hielt, blieb ein Geheimnis.
Natascha und Anna versuchten mir im guten und bösen das Versprechen zu entreißen, nicht mehr zu verschwinden, ohne ihnen vorher zu sagen wohin. Entgegenkommend versprach ich, mein Bestes zu tun, ohne daß es mir wirklich ernst war.
Frank aß mein Fleisch.
Mrs. Wilkinson erzählte. »Wir haben immer Labour gewählt, Vater und ich, aber ist das nicht komisch, in England sind es immer die radikalen Linken, die mehr und mehr Einwanderer reinlassen wollen, aber hier, wo es doch so links ist, wie es nur sein kann, gibt’s überhaupt keine. Oder sieht man etwa Schwarze in Moskau auf der Straße?«
Frank ignorierte das.
»Ich finde das einfach komisch, das ist alles«, sagte Mrs. Wilkinson. »Aber wenn ich darüber nachdenke, vielleicht sind sie in Indien gar nicht so wild drauf, hier in Moskau zu leben.«
Mr. Wilkinson murmelte über seinen Bratkartoffeln: »Die sind doch nicht blöd«, und das war so ziemlich alles, was er an diesem Tag von sich gab.
Frank erwachte mit einer routinemäßigen Verdammung der rassistischen Politik der National Front zum Leben.
Mrs. Wilkinson warf mir einen komisch verzweifelten
Blick zu. Sie konnte sich Frank einfach nicht verständlich machen.
»Front«, sagte ich milde, »ist ein überstrapaziertes Wort. Ein Klischee. Es gibt eine Front für dies und eine Front für das ... man sollte sich immer fragen, was ... wenn überhaupt . hinter einer Front steckt.«
Es gab wieder Eis mit schwarzer Johannisbeer-marmelade. Das mochte ich ganz gern.
Stephen aß genau wie Frank und sagte später, das Essen im Hotel Intourist sei verglichen mit dem Studentenfraß schierer Luxus.
Abgesehen von alldem, das sich in einem anderen Leben abzuspielen schien, hörte ich immer deutlicher die Stimmen von Boris und Jewgenij und Ian und Malcolm und Oliver und Kropotkin und Mischa und Juri Chulitskij und Gudrun und dem Prinzen und Hughes-Beckett und Johnny Farringford ... und die tote Stimme von Hans Kramer: alle hörte ich ganz deutlich.
Aber wo war Aljoscha?
Kapitel 15
Oben in meinem Zimmer stellt Stephen den Stuhl auf mein Bett, meinen Koffer auf den Stuhl und den Recorder auf den Koffer: und machte es an. Das Pfeifen ertönte, kräftig und gesund.
Nun stellte er von »Aufnahme« auf »Wiedergabe« um, und die Zuhörer kamen in den unmittelbaren Genuß eines Strawinsky-Bandes, das unter schwerem Jaulen, wenn nicht gar Eiern litt.
Ich verbrachte die Zeit mit der Betrachtung der Zettel, die Kropotkin mir gegeben hatte; von hinten und von vorn.
»Sie haben nicht zufällig etwas blaues Glas bei der Hand?« fragte ich. »Eine ganz bestimmte Schattierung, natürlich.«
»Blaues Glas?«
»Ja ... einen Blaufilter. Sehen Sie diese Schrift, die ausgestrichen wurde? Sie wurde in einem dunkleren Blau geschrieben als die Striche ... man kann noch die dunklen Schleifen erkennen.«
»Ja . na und?«
»Wenn man sich nun den Zettel durch ein blaues Glas von der gleichen Farbe wie die helleren Striche ansieht, könnte man vielleicht die dunklere Schrift erkennen. Die Farbe des Glases würde sozusagen die Farbe der Striche schlucken, und man könnte den Rest lesen.«
»Ich werde verrückt ...« sagte er. »Vielleicht ginge das wirklich. Aber was würde Ihnen das nützen?«
»Ich habe so eine Ahnung, wer Kropotkin das geschickt hat, aber ich wäre gern sicher.«
»Aber das könnte doch fast jeder sein.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich zeige Ihnen was.«
Ich zog die Schublade auf, die meine Privatapotheke enthielt, und kramte ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus, entfaltete es, legte es auf das Regal und Kropotkins Zettel daneben.
»Die sind ja gleich!« rief Stephen.
»Genau. Von derselben Art Notizblock abgerissen: weißes Papier, blau liniert, Spiralbindung.«
Die beiden Notizblockseiten mit ihren gezackten Abrißkanten lagen nebeneinander. Auf der einen stand »Für Aljoscha, J. Farringford«, und der Rest. Auf der anderen der Name Malcolm Herrick und eine Telefonnummer.
»Das gab er mir an meinem ersten Abend in Moskau in der Bar vom Hotel National«, erklärte ich.
»Ja ... aber diese Notizblöcke sind sehr verbreitet. Man kann sie überall kaufen. Studenten ... Stenotypistinnen ... sind es nicht überhaupt Stenogrammblöcke?«
»Und sie werden ständig von Zeitungsreportern benutzt«, sagte ich. »Die die Angewohnheit haben, Seiten auszustreichen, wenn sie damit fertig sind. Das habe ich immer wieder gesehen, beim Rennen, oder wenn sie nach einem Sieg mit mir geredet haben. Sie beschreiben den ganzen Block zuerst auf der einen Seite, dann drehen sie ihn um und benutzen auch die Rückseiten. Und um nicht nachher endlos die Seiten durchblättern zu müssen, um das zu finden, was sie gerade suchen, streichen oder kreuzen sie eine Seite aus, wenn sie erledigt ist ... genau wie diese hier, die wir von Kropotkin haben.«