Выбрать главу

Ich drehte das Blatt mit der Telefonnummer um, das Malcolm mir gegeben hatte, und auf der Rückseite waren einige Notizen über das Gastspiel eines Puppentheaters mit einem großen, dicken S ausgestrichen.

»Malcolm«, sagte Stephen mit verwirrtem Gesicht. »Warum sollte Malcolm das an Kropotkin schicken?«

»Ich nehme nicht an, daß er es war. Vielleicht hat er es nur demjenigen gegeben, der dann die Rückseite beschrieben hat.«

»Aber warum sollte er?« fragte Stephen frustriert. »Und was spielt das für eine Rolle? Das Ganze ist Irrsinn.«

»Es ist unwahrscheinlich, daß er sich daran erinnert, wem er vor fast drei Monaten einen Zettel gegeben hat«, meinte ich.

»Aber ich denke ... wir könnten ihn fragen.«

Ich wählte die Nummer auf dem Zettel, und er war zu Hause. Seine laute Stimme polterte durch den Hörer.

»Wo waren Sie, Sportsfreund? Habe versucht, Sie zu erreichen. Moskau am Wochenende ist wie Epsom, wenn Rennen in Ascot ist.«

»Ich war draußen auf der Rennbahn«, erklärte ich entgegenkommend.

»Tatsächlich? Und was tut sich sonst? Aljoscha schon gefunden?«

»Noch nicht.«

»Habe ich Ihnen ja gesagt. Das Ganze ist eine Ente. Ich habe mich umgesehen, und wenn ich nichts finden kann, dann ist da nichts, verstehen Sie?«

»Sie sind ein alter Hase, und ich nicht. Aber Kropotkin, der Trainer, hat alle Pferdeleute in Moskau gebeten zu helfen. Wir haben also eine Armee von Verbündeten.«

Er knurrte, und es klang nicht sehr erfreut. »Hat die Armee schon was geliefert?«

»Bis jetzt nur etwas sehr Kleines. Tatsächlich sieht es so aus wie eine Seite von einem Ihrer Notizblöcke«, sagte ich halb im Scherz.

»Eine was?«

»Seite ... mit dem Namen Aljoscha darauf. Und Johnny Farringford, von Sternchen umgeben. Und eine Menge Kritzeleien. Ich bin sicher, Sie werden sich nicht daran erinnern, es geschrieben zu haben. Aber folgendes ... können Sie sich vielleicht erinnern, jemandem in Burleigh ein Blatt von Ihrem Notizblock gegeben zu haben, der jetzt in Moskau sein könnte?«

»Gott, Sportsfreund, Sie stellen vielleicht Fragen.«

»Ja ...« Ein Seufzer brachte mich zum Husten. »Äh ... falls Sie sich zu sehr langweilen ... haben Sie vielleicht Lust, auf einen Drink zu mir ins Hotel zu kommen? So gegen sechs? Ich muß noch mal weg, aber bis dahin bin ich zurück.«

»Klar«, sagte er leichthin. »Verdammt gute Idee. Samstagabend kann man nur saufen. Wie ist Ihre Zimmernummer?«

Ich teilte sie ihm mit, er bedankte sich und legte auf. Ich legte langsam den Hörer auf, überlegte und kam zu dem Schluß, daß ich in meinem Leben schon manche Dummheit gemacht hatte, das hier aber wahrscheinlich alles übertraf.

»Ich dachte, Sie mögen ihn nicht besonders«, sagte Stephen.

Ich schnitt eine Grimasse und zuckte die Schultern. »Muß mich wohl für das Abendessen im Aragvi revanchieren.«

Auf dem Sofa sitzend untersuchte ich vorsichtig die Finger meiner rechten Hand mit denen meiner linken. Das Schlimmste war vorbei, und ich konnte sie schon etwas beugen und strecken. Möglicherweise waren ein paar Knochen angebrochen, obwohl man das ohne Röntgenaufnahmen schwer sagen konnte, aber ich konnte mich wohl glücklich schätzen, daß sie nicht gesplittert waren.

»Wann kritzeln Sie?« fragte ich Stephen.

»Kritzeln?«

»So wie da.« Ich deutete mit dem Kopf auf das Blatt aus Malcolms Notizblock.

»Ach so . hauptsächlich während der Vorlesungen. Zickzacklinien und Dreiecke, hauptsächlich. Keine Kästchen, Sterne und Fragezeichen. Immer, wenn ich mit einem Bleistift in der Hand zuhöre, glaube ich. Am Telefon beispielsweise. Oder beim Radiohören.«

»Hm ... ja ...« Ich hörte auf, erfolglos meine Finger zu befummeln, und wählte die internationale Vermittlung. Anrufe nach England, wurde mir gesagt, nur mit großer Verzögerung.

Wie groß war eine große Verzögerung? Verbindungen mit England kamen im Augenblick überhaupt nicht zustande. Hieß das Stunden oder Tage? Das konnte oder wollte die internationale Vermittlung nicht sagen. Frustriert stand ich auf.

»Gehen wir.«

»Wohin?«

»Irgendwohin. Mit dem Taxi in Moskau herum.«

»Außer Reichweite der Bösewichte?«

»Manchmal sind Sie wirklich ganz gescheit«, spottete ich. Wir nahmen die Matroschka in ihrer Tüte mit, außerdem (in meiner Jackentasche zusammen mit dem Telex) die beiden Seiten aus Malcolms Notizblock, und zwar aus der Überlegung heraus, daß diese vier Schätze die einzig greifbaren Erfolge meiner Bemühungen darstellten und nicht sorglos liegengelassen werden sollten, damit Frank oder jeder, der meine Zimmertür

aufkriegte, sie klauen konnte.

Obwohl Stephen nicht mehr sagte, wieviel billiger die Metro sei, erschrak er doch über die Kosten dieses Nachmittags. Der Prinz zahlt, belehrte ich ihn und teilte dem Taxifahrer, der mich wohl für verrückt hielt, in halbstündlichen Intervallen reichliche Rubelraten zu. Stephen schlug die Universität vor, wo er am Morgen für mich einen Besucherausweis besorgt hatte, um die umständliche Prozedur des gestrigen Tages zu vermeiden: Aber aus irgendeinem Grund konnte ich beim Fahren immer am besten nachdenken und hatte schon manchen Schlachtplan entworfen, während ich auf einem Traktor hin und her fuhr. Irgend etwas an einem bewegten Hintergrund löste bei mir Gedankengänge aus, und neue Ideen entstanden, wo vorher nichts gewesen war. Letzten Endes war ich eben ein Mensch, der frische Luft brauchte.

Wir sahen eine Menge von Moskau, Altes und Neues. Alte Eleganz und neuen Funktionalismus, historisch schlecht zusammenpassend, aber im stillen, weißen Winterschlaf vereinigt.

Dicke, weiße Kappen auf den goldenen Kuppeln. Läden mit mehr Platz als Waren. Riesige Spruchbänder mit Parolen zum Ruhme der Kommunistischen Partei über den Dächern. In mir erzeugte das eine überwältigende, alles durchdringende Melancholie, Trauer um eine große, in erstickende Bürokratie verstrickte Stadt, so ohne Freiheit, wo man gezwungen war, sich umzusehen, bevor man sprach.

Bei Einbruch der Dunkelheit hielten wir einmal, um einige Gläser und Nachschub für die Alkoholbatterien zu kaufen, und außerdem ein Souvenir, das ich Emma mitbringen wollte: eine buntbemalte Matroschka, die lauter kleine Matroschkas in sich trug. Was ich in Moskau gemacht hatte, war ja mehr oder weniger wie das Öffnen einer solchen Puppe. Entfernte man eine Schicht, war immer noch eine Schicht darunter, und darunter noch eine und immer so weiter. Und in der Mitte keine winzige, hölzerne Mama mit rosigen Wangen, sondern die aufgehende Saat des Terrors.

Als wir schließlich in mein Zimmer zurückkehrten, deutete nichts auf ein unbefugtes Eindringen hin.

Vielleicht hätten wir ruhig dort bleiben können, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, und »hätte ich nur« einer der traurigsten Sätze überhaupt.

Der Recorder stand noch immer auf seinem wackeligen Thron, und als Stephen ihn einschaltete, sagte es uns durch sein Schweigen, daß die Lauscher schliefen.

Es war fünf nach sechs. Wir ließen das Gerät an und gingen zu den Sesseln bei den Fahrstühlen, um die Gäste zu erwarten.

Ian kam zuerst, keineswegs betrunken, aber leicht schwankend. Das blieb jedoch ohne Auswirkungen auf sein Gesicht, das wie immer bleich, still und ausdruckslos, und seine Aussprache, die klar und deutlich war. Ohne Umschweife teilte er uns mit, daß er sich Freitag abends und samstags der großen russischen Freizeitbeschäftigung mit dem ganzen Eifer des Bekehrten hingab. Natürlich nur, wenn kein Schlamassel vorlag. Und wo, fragte er, seien die Flaschen?