»Was hatte er denn vor?« wollte Ian wissen.
»Menschen bei der Olympiade umzubringen.«
Malcolms Reaktion trug viel dazu bei, Ian und Stephen zu überzeugen. Er wurde weiß wie die Wand, und die geplatzten Äderchen auf Wangen und Nase traten deutlich hervor. Ihm blieb buchstäblich der Atem weg: Sein Mund öffnete sich, ohne daß ein Laut kam. Entsetzte Ungläubigkeit lag in seinen Augen; diesmal hatte ich seinem Selbstvertrauen wirklich einen tödlichen Schlag versetzt.
»Vielleicht kommen Sie also nie vor Gericht«, fuhr ich fort. »Aber wenn einer der Reiter auf der Olympiade genauso stirbt wie Hans Kramer, dann wird die Welt wissen, wo man suchen muß.«
Er war wie erschlagen: fast im Stehen bewußtlos. Eine beinahe greifbare Stille herrschte im Raum. Ian, Stephen und ich beobachteten ihn atemlos: Und in diesem spannungsgeladenen Augenblick klopfte es energisch an der Tür.
Es war Ians Pech, daß er sich als erster fing und zur Tür ging.
Malcolms Freunde griffen mit ihrer üblichen brutalen Schnelligkeit an, stürmten wie Stiere durch die sich öffnende Tür und schlugen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Diese schiere, animalische Raserei brach wie ein Vulkan in das Zimmer ein, und die halb über die Gesichter gezogenen Balaclavas schienen die fürchterliche Wirkung nur noch zu verstärken.
Der geschwungene Schlagstock des ersten traf Ian voll am Kopf. Ohne einen Laut sackte er zusammen und lag regungslos vor der Badezimmertür.
Der zweite Mann schlug die Tür zum Korridor mit dem Fuß zu und kam zielstrebig näher, ein kleines Schraubglas in der Hand. Er trug Gummihandschuhe. In dem Glas befand sich eine Flüssigkeit, blaßgolden wie Champagner.
Alles geschah mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Malcolm erwachte mit weitaufgerissenen Augen zum Leben und schrie: »Aljoscha« und dann »Nein, nein.« Und als er den auf Stephen zielenden Schlagstock sah: »Nein, nein, der hier«, wobei er auf mich deutete.
Ich sprang auf mein Bett, packte den Recorder und warf ihn nach dem Mann, der Stephen angriff. Es traf ihn im Gesicht und verletzte ihn. Er drehte sich zu mir um, noch mordlustiger als zuvor.
Der Mann mit dem kleinen Glasbehälter schraubte den Deckel auf.
»Der da«, schrie Malcolm, auf mich zeigend. »Der da.«
Der Mann mit dem Glas starrte Malcolm mit furchterregender Grausamkeit an und hob den Arm.
Malcolm schrie.
Schrie.
»Nein. Nein. Nein.«
Ich hob den Stuhl hoch und schlug nach dem Mann mit dem Glas, aber der mit dem Schlagstock stand im Weg.
Der Mann mit dem Glas schüttete Malcolm dessen Inhalt ins Gesicht. Malcolm stieß einen hohen, klagenden Schrei aus, wie der einer Möwe.
Wieder ließ ich den Stuhl niedersausen und traf das Handgelenk des Mannes mit dem Glas wie mit einer Axt. Er ließ das Glas fallen und krümmte sich vor Schmerzen. Ich sprang vom Bett und ging mit einer Wut auf die beiden los, die mich selbst überraschte. Stephen griff sich eine der Wodkaflaschen und rammte sie in den Augenschlitz einer der Balaclavas.
In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine solche Wut verspürt. Ich haßte diese Männer. Zitterte vor Haß. Ich schwang den Stuhl, nicht um mein Leben zu verteidigen, sondern um sie zu töten. Reiner, primitiver, blutdürstiger, rachsüchtiger Haß, nicht nur auf das, was sie hier in dieser Stadt, diesem Raum taten, sondern auch auf ihresgleichen in der ganzen Welt. Für alle die hilflosen Geiseln, die für ein Lösegeld gefangenen Opfer schlug ich zurück.
Es mag verwerflich und unzivilisiert gewesen sein, aber auf jeden Fall war es wirkungsvoll. Stephen zerschlug die Flasche an der Wand und ging mit dem bedrohlich scharf gezackten Rest auf sie los, und ich schlug weiter mit Stuhl,
Füßen und Wut um mich. Zusammen trieben wir sie in den schmalen Gang vor dem Badezimmer zurück, wo Ian immer noch unbeweglich lag.
Wie in einer plötzlichen gemeinsamen Entscheidung drehten sie sich um, rissen die Tür zum Flur auf und flohen.
Keuchend blieb ich stehen.
»Ihnen nach«, japste Stephen.
»Nein ... kommen Sie zurück ...« Ich rang nach Atem. »Machen Sie die Tür zu ... Wir müssen uns um Malcolm kümmern.«
»Malcolm?«
»Er stirbt«, sagte ich. »In neunzig Sekunden ... Lieber Gott.«
Malcolm war wimmernd zusammengebrochen und lag halb auf dem Boden, halb auf dem Bett.
»Machen Sie die Matroschka auf«, drängte ich. »Mischas Matroschka. Schnell, schnell ... die Schachtel mit dem Naloxon.«
Ich riß die Schublade auf, die mein Atemzubehör enthielt, und holte die Plastikhülle heraus. Meine Finger wollten nicht recht. Geschieht ihm recht, dachte ich wütend, wenn ich ihm nicht das Leben retten kann, weil sie mir die Hand zerschmettert haben, als er mich umbringen lassen wollte.
Konnte die starke Plastikhülle nicht von der Injektionsspritze reißen. Schnell. Um Gottes willen, schnell ... nahm die Zähne zu Hilfe.
»Das?« fragte Stephen und hielt die Hustenbonbonschachtel hoch. Ich öffnete sie und legte sie auf das Regal.
»Ja ... ziehen Sie ihm die Hosen runter.«
Neunzig Sekunden. Lieber Gott.
Meine Hände zitterten.
Malcolm rang hörbar nach Luft.
»Er läuft blau an«, meldete Stephen voll Entsetzen.
Die Nadel war im Glaskörper der Spritze verpackt. Ich holte sie heraus und steckte sie auf.
»Er atmet kaum noch und ist bewußtlos«, sagte Stephen.
Ich brach die Spitze von einer der Naloxonampullen. Stellte sie mit zitternden Händen aufrecht auf das Regal. Nur nicht umstoßen ... Durfte sie nicht umstoßen. Hätte zwei Hände gebraucht, zwei zuverlässige, nicht zitternde Hände.
Ich nahm die Spritze in die rechte Hand und die Ampulle in die linke. Ich war Rechtshänder ... ich konnte es nicht anders, wenn ich es auch gern getan hätte. Senkte die Nadel in den kostbaren Teelöffel Flüssigkeit, zog sie auf die Spritze. Meine Finger schmerzten. Macht nichts, macht nichts. Neunzig Sekunden ... fast vorbei.
Ich wandte mich Malcolm zu. Stephen hatte ihm die Hosen heruntergezogen. Ich stieß die Nadel in den Muskel und drückte auf den Kolben. Den Rest mußte Gott tun, dachte ich.
Wir hoben ihn aufs Bett, was gar nicht einfach war, zogen ihm Jacke und Krawatte aus und rissen sein Hemd auf. Seine Hautfarbe und die Atmung waren immer noch schrecklich, hatten sich aber nicht verschlimmert. Er war wieder bei Bewußtsein und zu Tode erschrocken: »Dreckskerle« murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Vor dem Badezimmer begann Ian zu stöhnen. Stephen ging zu ihm. Ian kam rasch wieder zu sich und versuchte aufzustehen. Stephen half ihm auf, stützte ihn und bugsierte ihn zum Sofa.
Der kleine Glasbehälter lag neben dem Sofa auf dem
Teppich, und Stephen bückte sich ganz automatisch, um ihn aufzuheben.
»Rühren Sie das nicht an«, rief ich entsetzt. »Nicht anfassen, Stephen. Es bringt Sie um.«
»Aber es ist doch leer.«
»Das bezweifle ich. Ich glaube, ein paar Tropfen würden reichen.« Ich hob den umgefallenen Stuhl auf und stellte ihn über den Behälter. »Vorläufig muß es so gehen. Passen Sie auf, daß Ian es nicht anfaßt.«
Ich wandte mich wieder Malcolm zu. Seine Atmung war etwas kräftiger, aber nicht viel.
»Wie kriegen wir einen Arzt?« fragte ich.
Stephen warf mir einen verzweifelten Blick zu, den ich als panische Angst vor jedweder Konfrontation mit sowjetischen Behörden deutete, nahm aber den Hörer ab und wählte die Rezeption.
»Sagen Sie ihnen, der Arzt soll Naloxon mitbringen.«
Er wiederholte die Forderung zweimal und buchstabierte sie außerdem, sah aber nach Beendigung des Gesprächs nicht sehr zuversichtlich aus. »Sie sagt, sie wird einen Arzt rufen, aber mit dem Naloxon ... sie meint, der Arzt weiß schon, was er mitzubringen hat. Sie wollen einfach nicht. Je mehr man auf etwas besteht, um so strikter weigern sie sich.«