Der kleine Glasbehälter lag immer noch umgestürzt unter dem schützenden Stuhl. Irgendwie mußte er in ein Zahnputzglas praktiziert werden, und ich sah mich nach einem genügend langen Löffel für das Nachtmahl mit dem Teufel um, als Stephen sein Päckchen aus der Apotheke zum Vorschein brachte.
»Wie wäre es damit?« fragte er. »Angeblich sind die absolut undurchlässig.«
Bei jeder anderen Gelegenheit wären wir vor Lachen außerstande gewesen, etwas zu unternehmen. So aber kleidete ich Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand in preservativij und befestigte sie mit Gummibändern.
Stephen hatte protestiert, es seien seine preservativij, deshalb müsse er es sein, der sie benütze, zumal ich die Operation mit der linken Hand durchführen wollte. Ich befahl ihm, den Mund zu halten. Das war mein Job, dachte ich. Ich hatte den Schwarzen Peter und die Verantwortung.
Er nahm den Stuhl weg. Ich kniete nieder, setzte mein ganzes Vertrauen in die improvisierten, lose sitzenden Gummifingerlinge, ergriff den kleinen Glasbehälter und stellte ihn aufrecht in ein Zahnputzglas.
Um ehrlich zu sein, mein Mund war ganz trocken.
Auf der Seite liegend hatte der Behälter mehr oder weniger leer ausgesehen, aber das täuschte. Jetzt war deutlich ungefähr ein halber Teelöffel einer blaßgoldenen Flüssigkeit am Boden zu sehen. Blaßgolden ... eine schöne Farbe für den Tod.
»Der Deckel muß irgendwo sein«, sagte ich. »Aber rühren Sie ihn nicht an.«
Ian fand ihn unter dem Sofa. Er hob es an, ich erwischte den kleinen Schraubdeckel und tat ihn zu dem Behälter in das Zahnputzglas.
»Was wollen Sie jetzt damit machen?« fragte Stephen, der mit verständlicher Beklommenheit die Überreste betrachtete.
»Verdünnen.«
Ich brachte das Zahnputzglas ins Badezimmer und stellte es in die Mitte der Badewanne. Dann tat ich den Stöpsel in den Abfluß und drehte die Hähne auf. Das Wasser strömte in die Wanne, und bald begann das Glas wie ein Wasserspielzeug zu schwimmen, noch immer mit seiner tödlichen Fracht. Mit der geschützten Fingerspitze drückte ich es in die Tiefe.
Drehte die Hähne zu, bewegte das Glas mit dem Stiel meiner Zahnbürste hin und her, und ließ dann das Wasser ablaufen. Schließlich lagen der gewaschene Behälter, der Verschluß und das Zahnputzglas als harmloses, nasses Häufchen auf dem weißen Emaille der Wanne. Ich nahm sie heraus, tat sie ins Waschbecken und ließ noch einmal Wasser einlaufen, um ganz sicherzugehen.
Dann streifte ich die preservativij ab und spülte sie, wie es sich gehörte, im Klo herunter: und atmete erleichtert auf.
Im Zimmer hatten Stephen und Ian alles wieder in Ordnung gebracht. Die Spritze und die leeren Ampullen waren nicht mehr zu sehen. Die beiden Hälften der Matroschka waren wieder vereint. Die zerbrochene Flasche und die Glassplitter waren verschwunden. Der Stuhl stand ruhig neben dem Regal und darauf ganz harmlos der Recorder. Mein Koffer befand sich wieder im Schrank. Alles ordentlich. Alles ruhig. Alles unverdächtig.
Und Malcolm ... Malcolm lag in ewiger Ruhe, die Hosen wieder hochgezogen und geschlossen und das Hemd bis zum Hals zugeknöpft. Seine Jacke und die Krawatte lagen auf dem Sofa, jetzt allerdings ordentlich zusammengelegt. Der tote Malcolm sah sehr viel friedlicher aus als der sterbende.
Der russische Arzt erschien mit ausdruckslosem Gesicht und ließ routinemäßig und unbewegt den Amtsschimmel wiehern. Stephen und Ian glaubten zu verstehen, daß er nicht viel von Ausländern hielt, die Samstag abends abkratzten, wo alle Dienstleistungen auf das Notwendigste beschränkt waren.
Anweisungsgemäß warteten wir in den Sesseln am Fahrstuhl und sprachen wenig. Die rundliche Dame hinter dem Schreibtisch kam und ging mehrere Male, und Stephen fragte sie, ob sie ihre Arbeit als langweilig empfinde.
Ungerührt antwortete sie, es passiere nicht eben viel, aber ihr Job sei ihr Job. Stephen übersetzte Frage und Antwort, wir nickten mitfühlend und waren ziemlich überzeugt, daß sie nicht hinter ihrem Schreibtisch gesessen hatte, als Malcolms Freunde uns ihren Besuch abgestattet hatten.
Der Doktor schöpfte keinen Verdacht. In England war Hans Kramers Tod sogar nach einer Autopsie für die Folge eines Herzanfalls gehalten worden, und mit etwas Glück würde es hier auch so sein. Der Doktor hatte nicht erwähnt, daß er gebeten worden war, Naloxon mitzubringen. Offenbar hatte die Rezeption versäumt, Stephens Bitte weiterzuleiten: glücklicherweise, wie sich herausstellte.
Ian bekam vom Wodka und von der Gehirnerschütterung dröhnende Kopfschmerzen und lehnte mit geschlossenen Augen stöhnend in seinem Stuhl.
Stephen knabberte an seinen Fingernägeln.
Ich hustete.
Eine ganze Reihe ernster Gesichter kam und ging, einige davon sagten schließlich, wir könnten in mein Zimmer zurückkehren, Ian und Stephen, um ihre Mützen und Mäntel zu holen, und ich, um zu packen und in ein anderes Zimmer umzuziehen.
Zu diesem Zeitpunkt stöhnte Ian sich heimwärts, aber Stephen half, meine Habseligkeiten im Lift zum fünfzehnten Stock hinauf zuschaffen. Das neue Zimmer war identisch im Schnitt, etwas anders in der Farbe, und auf dem Bett lag keine steife Gestalt unter einem weißen Laken.
Stephen ließ seinen Blick an den Wänden entlangwandern und legte zwei Finger an die Lippen. Ich nickte. Mit dem Recorder herumzufummeln, lohnte sich wohl nicht. Wir machten ein oder zwei passende, schockierte Bemerkungen über Herzattacken, nur für alle Fälle, und beließen es dabei.
Wie ich feststellte, hatte er bei dem hastigen Ordnungmachen das ganze zerbrochene Glas, die Ampullen und die Spritze einfach in meinen Morgenrock gerollt und diesen in den Koffer gesteckt. Schon auf dem Weg hatten wir darüber gesprochen und es für vernünftig gehalten, alles auf einmal loszuwerden, also steckten wir die Sachen in die äußerste Hülle der neuen Matroschka und ließen ein kleines Mütterchen lächelnd auf dem Regal zurück. Die mit Abfall gefüllte Puppe taten wir in die Einkaufstasche, nahmen den Recorder mit und verließen leise das Zimmer, Die Dame auf der fünfzehnten Etage schenkte uns einen uninteressierten Blick. Wir lächelten ihr zu, während wir auf den Fahrstuhl warteten, aber Lächeln gehörte nicht zu ihren Gewohnheiten.
Erreichten das Erdgeschoß. Ohne Schwierigkeiten. Schlenderten gemächlich, ohne aufgehalten zu werden, auf dem längeren Weg zum Ausgang. Gingen unter den wachsamen Augen, die nichts anderes taten als wachen, hinaus. Kletterten in ein Taxi. Überließen uns ihm vertrauensvoll und kamen wohlbehalten in der Universität an.
Es war uns keine Privatsphäre beschieden, wo wir die Reaktion hätten verdauen können. Stephen und ich zitterten beide, nachdem wir Mantel und Mützen abgelegt hatten, und wir verspürten einen geradezu zwanghaften Drang zu reden. Selten war mir etwas so schwergefallen, wie jetzt belanglose Konversation zu machen, während die Schrecken des Abends noch in unseren Köpfen lebten, aber der Recorder hatte wieder definitiv angezeigt, daß wir nicht allein waren. Die ungelöste Spannung machte uns so nervös, daß wir uns schon nicht mehr in die Augen sehen konnten. Schließlich sagte er, mit einiger Heftigkeit, er wolle jetzt Tee machen gehen und die Matroschka in die Mülltonne leeren. Ich ging unterdessen auf den Gang und führte ein langes Telefongespräch mit Juri Chulitskij.
Kapitel 17
Juri las mich im trüben Dezemberlicht eines Sonntagmorgens um neun Uhr vor dem Hotel National auf.
Frischer Schnee war in der Nacht gefallen, und die Straßen waren noch nicht geräumt. Alles lag unter einem weißen Laken, wie Malcolm, und meine Stimmung war so tief gesunken wie die Temperatur.
Der hellgelbe Wagen schoß wie ein goldener Würfel heran, und ich ließ mich, heftig hustend, auf den Beifahrersitz gleiten.
»Sie haben Krankheit?« forschte er und ließ die Kupplung kommen, als sei das Getriebe aus Titan.