»Das haben Sie Leuten erzählt ... Leuten in England?«
»Da. Leute erzählen mir, Hans Kramer sterben, es ist Aljoscha. Hans Kramer schlechter Mann, Freund von Lord Farringford. Ist schlecht, Lord Farringford kommen nach Moskau. Deshalb ich sagen zu Leuten ... Aljoscha ist schlechter Leute. Aljoscha böse, wenn Lord Farringford kommen.«
Ich schüttelte verwundert den Kopf.
»Aber warum, Juri? Warum wollten Sie nicht, daß Lord
Farringford nach Moskau kommt?«
Er ließ sich mit der Antwort lange Zeit. Seine Oberlippe zuckte geschlagene sechs Mal. Er zündete sich eine Zigarette an und tat einige tiefe Züge. Zuletzt faßte er seinen Hochverrat in Worte.
»Ist nicht gut ... Genossen benutzen Lord Farringford ... wir ihm folgen ... nicht gut ... ihn bei schlechte Sachen benutzen . ich mich schäme für Genossen. Ich mich schäme ... für mein Land.«
Stephen und Ian saßen mit düsteren Gesichtern im Foyer.
»Mein Gott«, rief Stephen, als ich vor ihnen auftauchte, »sie haben ihn laufenlassen!« Sein Gesicht strahlte sofort wieder vor guter Laune. »Wo sind die Handschellen?«
»Darüber wird noch verhandelt, möchte ich annehmen.«
Noch immer gab es keinen Ort, an dem man in Ruhe sprechen konnte, da meinem neuen Zimmer auch nicht zu trauen war, deshalb verzogen wir uns ans Ende der Stuhlreihe im Foyer und verstummten, sobald jemand in die Nähe kam.
»Also, was ist los?« fragte Ian.
»Wenn wir Glück haben, nicht viel. Ich glaube nicht, daß sie terroristische Aktivitäten in Moskau an die große Glocke hängen wollen, nicht, wenn sie es vermeiden können. Sie kennen sich doch hier aus, glauben Sie, die Genossen würden einen Mord vertuschen? Dürfen sie das? Ich mußte dem hohen Tier erzählen, daß Malcolm umgebracht worden ist.«
»Leichter hier als irgendwo anders, mein Sohn. Wenn es denen paßt zu sagen, unser Freund starb an einem Herzanfall, dann werden sie es sagen«, belehrte mich Ian.
»Wir wollen es hoffen«, sagte ich inbrünstig.
»Übrigens hat Stephen mir alles erzählt, was Sie gestern nacht aufgeschrieben haben. Sie müssen mich für sehr blöd halten, daß ich nicht selbst darauf gekommen bin, aber als ich mich damit beschäftigt habe, bin ich zu keinem Ergebnis gekommen.«
»Ich besaß ja auch das Schlüsselwort«, sagte ich leise lächelnd.
»Aljoscha?« fragte er verwundert.
»Nein ... Pferd.«
»Die Bruderschaft vom Sattel«, sagte Stephen sardonisch. »Sie öffnet die geheimsten Türen . auf der ganzen Welt.«
»Spotten Sie lieber nicht«, sagte ich. »Sie haben nämlich recht.«
»Nur eines möchten wir noch wissen«, Ians unbewegtes Gesicht zeigte keine Spuren von den Heimsuchungen des gestrigen Tages, »nämlich warum Sie so vollkommen überzeugt waren, daß Malcolm hinter allem steckte? Ich meine ... es gab doch nur Indizien ... aber Sie waren ganz sicher.«
»Hm . es war eigentlich nur eine Kleinigkeit. Nur ein Indiz mehr ... und da waren schon so viele. Es war das Blatt von Malcolms Notizblock, das Juri Chulitskij Kropotkin schickte. Wissen Sie noch, wie es aussah? Lauter Gekritzel. Und wann kritzelt man? Wenn man zuhört oder wartet. Wenn man am Telefon auf eine Antwort wartet. Sie erinnern sich sicher, unten auf der Seite standen einige Zahlen und Buchstaben, Abf Pet, 1855, und K’s C 1950. Nun, auf den ersten Blick sagten sie mir nichts, aber gestern nachmittag, als wir durch Moskau fuhren, dachte ich . angenommen, Malcolm kritzelte, weil er auf diese Zahlen wartete ... und dann fuhren wir an einer Metrostation vorbei, und ich dachte an Züge ... und da hatte ich es auf einmal. Abf Pet 1855 hieß
Abfahrt Peterborough 18.55 und K’s C 1950 bedeutete Ankunft King’s Cross 19.50. Er hatte die Auskunft angerufen, um das festzustellen.«
»Aber was ist daran so sensationell?« fragte Stephen.
»Peterborough ist die Bahnstation von Burleigh.«
»Ach so«, sagte Ian, der allmählich begriff, »als Boris das Gespräch im Zug von Burleigh nach London hörte, hörte er Malcolm . der seinen Freunden die Ware verkaufte.«
»Es schien eine Möglichkeit zu sein«, erwiderte ich. »Tatsächlich war es sehr wahrscheinlich. Und auf dem gleichen Blatt Papier, vielleicht während er immer noch auf die Antwort von der Auskunft wartete, die ja manchmal ewig dauert, malte er Johnny Farringford als Drei-Sterne-Opfer für Aljoscha hin. Ich weiß nicht, wie gut er Johnny kannte, jedenfalls mochte er ihn nicht. Er sprach von ihm als vom Scheiß-Farringford.«
»Aber warum in aller Welt hat er so ein belastendes Stück Papier weitergegeben?« fragte Stephen. »Er war wirklich dumm.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur durch einen Riesenzufall kam es in meine Hände und bekam eine Bedeutung. Für ihn war es einfach Gekritzel. Er hat es ausgestrichen. Nur ein Stück Papier zum Wegwerfen ... Vielleicht hat er es jemand gegeben, der sich eine Notiz machen wollte.«
»Was macht Ihr Husten?« fragte Stephen.
»Scheußlich. Wollen wir Mittagessen gehen?«
Weil wir zu dritt waren, saßen wir an einem anderen Tisch, direkt neben Frank und den Wilkinsons.
Ian beäugte Frank voller Güte und fragte mich leise, ob der Status auf diesem Gebiet noch immer quo sei.
»Ob er weiß, daß ich es weiß?« sagte ich. »Nein, das weiß er nicht. Weiß er, daß Sie es wissen? Wer weiß?«
»Weiß er, daß ich weiß, daß Sie wissen, daß die wissen, daß sie weiß, daß Sie es wissen?« sagte Stephen.
Mrs. Wilkinson beugte sich herüber. »Fliegen Sie auch am Dienstag zurück, wie wir?« fragte sie. »Vater und ich werden froh sein, wenn wir wieder zu Hause sind. Stimmt’s, Vater?«
Vater sah aus, als könnte er es kaum erwarten.
»Ich hoffe es«, antwortete ich.
Natascha kam mit vorwurfsvollem Lächeln und sagte, ich hätte mein Versprechen nicht gehalten, ihr zu sagen, wo ich hinging. Nichts, so schien es, hatte sich geändert; außer, daß diesmal Stephen mein Fleisch aß.
Nach dem Essen gingen wir drei in mein Zimmer hinauf, damit Stephen und Ian ihre Mäntel und Mützen holen konnten, und während wir noch besprachen, wann wir telefonieren und uns treffen wollten, klopfte es an der Tür.
»Gott, nicht schon wieder«, stöhnte Ian und hob instinktiv die Hand an seinen ramponierten Kopf.
Ich ging zur Tür und fragte: »Wer ist da?«
Keine Antwort.
Stephen kam und fragte auf russisch: »Wer ist da?«
Dieses Mal kam eine Antwort, aber Stephen schien sie nicht zu gefallen.
»Er sagt, der Generalmajor schickt ihn.«
Ich ließ die Zugbrücke herunter. Draußen im Flur standen zwei große Männer mit undurchdringlichen Gesichtern, flachen Uniformmützen und langen, schweren Mänteln. Aus dem Ausdruck auf Stephens Gesicht schloß ich, daß
das Aufgebot gekommen war, den Geächteten zu holen.
Einer von ihnen überreichte mir einen an Randall Drew adressierten Umschlag. Er enthielt eine außerordentlich knappe, handgeschriebene Anweisung: »Begleiten Sie meine Offiziere«, und darunter »Generalmajor«.
Stephen war etwas blaß und machte große Augen. »Ich warte hier. Wir warten beide hier auf Sie.«
»Das werden Sie nicht tun. Sie gehen, und ich rufe Sie an.«
»Wenn nicht, bringe ich morgen früh als erstes die Sachen zu Oliver Waterman. Recht so?«
»Recht so.«
Ich nahm Mantel und Pelzmütze vom Haken und zog sie an. Die beiden großen, ernsten Männer warteten ernst. Zu fünft gingen wir dann zum Lift und fuhren ohne viele Worte hinunter.
Während wir uns durch das Foyer bewegten, wich mancher vor uns zurück, und ängstliche Blicke trafen uns. Umfang und Art meiner Eskorte ließen nur einen Schluß zu. Niemand wollte mit meinem Unglück zu tun haben.
Sie waren in einem großen, schwarzen Dienstwagen mit uniformiertem Fahrer gekommen. Sie bedeuteten mir, mich nach hinten zu setzen. Ein letzter Blick zeigte mir die besorgten Gesichter von Stephen und Ian, die Seite an Seite auf dem Bürgersteig standen, dann fuhr der Wagen an und schlug den Weg zum Djershinski-Platz ein.