Einer meiner Freunde hat jedes Mal über Stunden Mut aufgetankt, um in die Apotheke zu gehen. Und wenn er von einem Mann oder einer Frau mit strengem Gesichtsausdruck bedient wurde, verlor er seinen ganzen Mut und kaufte stattdessen Aspirin. Sein Sex-Entzug und die darauf folgende Enttäuschung lösten bei ihm schreckliche Kopfschmerzen aus. Sein einziger Trost bestand darin, dass er ein Zimmer voller Aspirin hatte, um die Kopfschmerzen loszuwerden.
Noch scheinheiliger konnten die Amerikaner sein. Ich erlebte das 1955 während eines Besuches in New York. Da war ich zu einer Petting-Party eingeladen.
Anfangs dachte ich, es handele sich um eine ganz normale Party, doch dann entdeckte ich, dass die jungen Leute ihre Eltern mitgebracht hatten. Nachdem alle am Gartengrill ihren Hunger gestillt hatten, saßen die Mamas und die Papas im Halbkreis auf der einen Seite, und die jungen Paare nahmen, ebenfalls im Halbkreis, auf der anderen Seite Platz. Bald darauf wurde es dunkel, und die einzige Lichtquelle war die ersterbende Holzkohlenglut des Grills.
Als junger Ehemann musste ich mich auf der Elternseite niederlassen und den ganzen Abend einem erheblichen Langweiler zuhören, der mir auseinandersetzte, dass Rasierklingen ewig halten würden, wenn man nur das Rostproblem lösen könnte. Meine Gedanken wa-ren ganz woanders, ich quälte meine Augen, um zu erkennen, was auf der stummen Seite des Kreises geschah.
Ich nehme einmal an, die jungen Leute dort taten alles bis zur Grenze dessen, was sie wirklich tun wollten. Ich hörte leises Stöhnen und Seufzen, aber das laute Geschnatter auf meiner Seite machte es schwierig, Einzelheiten zu unterscheiden.
Um Mitternacht wurde das Ende der Party verkündet, irgendwer schaltete das Licht ein. Und da sah ich sechzehn derangierte Teenager die Hosen zuknöpfen, Büstenhalter zurechtrücken, Kleider glatt streichen, Lippenstiftspuren abwischen u.s.w.
Mit Bangen wartete ich auf das große Donnerwetter, aber die Eltern waren glücklich, weil der Anstand bewahrt worden war. Die Prüderie hatte über das Laster gesiegt. Die jungen Leute kehrten über die Maßen frustriert heim, und ich hatte eine Menge nutzloser Informationen über Rasierklingen erhalten.
Deshalb mag ich den folgenden Witz nicht, der in den fünfziger Jahren die Runde machte:
Was sagen Mädchen nach einem »Quickie«?
Das australische Mädchen sagt: »Ich hoffe, du denkst nicht schlecht von mir.«
Das deutsche Mädchen sagt: »Das war großartig. Wohin gehen wir essen?«
Das englische Mädchen sagt: »Fühlst du dich jetzt besser, mein Lieber?«
Und das amerikanische Mädchen sagt: »Wie war noch mal dein Name?«
Das amerikanische Mädchen hätte das niemals gefragt. Nicht einmal vorher. Ich höre, die Leute hätten sich geändert - sie seien liberaler geworden. Das mag zutreffen, aber ihre prüden Vorstellungen von Sex haben sich nicht gewandelt. Ein typisches Beispiel ist Hollywood. Fast jeder amerikanische Film enthält eine oder mehrere heiße Liebesszenen, aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Schauspieler nie ihre Unterwäsche ausziehen. Wenn alle Amerikaner sich so verhalten, grenzt es an ein Wunder, dass es immer noch vierhundert Millionen von ihnen gibt.
Lentz/Thoma.
1970-1979
Die RAF bombte und nahm Geiseln, Palästinenser überfielen die israelischen Sportler bei den olympischen Spielen in München, Rainer Barzel scheiterte mit einem sicher geglaubten Misstrauensvotum, die SPD regierte weiter.
Willy Brandt hatte 1971 den Friedensnobelpreis erhalten. Die Guillaume-Affäre, der Spion als engster Berater, zwang den Kanzler drei Jahre später zum Rücktritt. Die Kanzlerzeit des Helmut Schmidt begann. Und die Deutschen erzählten weiter Ostfriesenwitze.
Diese oft sehr dürftigen Geschichten waren für den Anfang der siebziger Jahre repräsentativ. Bestimmt könnten kluge Köpfe aus diesem Tatbestand ernste Hintergründe filtern. Es gab aber keine. Außer dem einen, dass die Grundstimmung der Deutschen optimistisch war.
Wenn man Eike Christian Hirsch (>Der Witz-Ableiter<) glauben will, und warum sollte man das nicht, entstanden die Ostfriesenwitze 1970 in einem Gymnasium in Westerstede, einem Ort zwischen Oldenburg und Ostfriesland. In der Schülerzeitung >Trompeter< wurde in einer Spalte »Aus Lehre und Forschung« der »Homo ostfriesien-sis« erfunden. Aus Spaß und aggressiver Konkurrenz zwischen Ammerländern und Ostfriesen. Als der >Spiegel< 1971 Kostproben druckte, wurden die deutschen Witzbolde richtig erfinderisch.
Warum gerade jetzt und gerade in der Bundesrepublik? Es gibt keine einleuchtende Erklärung. Abwertende Späße über Gruppen sind nicht speziell deutsch. Die meisten Beispiele konnte man schon anderswo hören, sie wurden zwischen Flamen und Wallonen, Griechen und Türken, Bayern und Österreichern, oder in den USA als Neger- oder auch Polenwitze erzählt. Manchmal werden sie aus Unverständnis den Fremden gegenüber besonders bösartig. Ostfriesen sind angeblich blöd und rückständig, haben Stroh im Kopf und streuen Pfeffer auf den Fernseher, um das Bild scharf zu machen.
Frage: Warum starren die Ostfriesen immer vom Strand aufs Meer hinaus? Antwort: Sie warten auf die Sexwelle.
Ein Ostfriese wird in Bayern festgenommen und beschuldigt, eine Frau überfallen zu haben. Nach einer Nacht in der Münchner Zelle wird morgens eine Gegenüberstellung arrangiert. Fünf Münchner, ähnlich gekleidet, werden neben den Ostfriesen gestellt, die betroffene Frau gegenüber. Als sich alle eine Weile angesehen haben, tritt der Ostfriese vor, zeigt auf die Frau und sagt: »Die war's!«
Ein Ostfriese reist nach Ägypten und fährt mit einem Dampfer über den Nil. Das Schiff wird durch ein anderes Fahrzeug gerammt und sinkt. Schon kommen die ersten Krokodile angeschwommen.
Da ruft der Ostfriese: »Da sieht man es wieder, alles verlottert hier. Aber die Rettungsboote sind von Lacoste!«
Witze dieser Art übertreiben meistens so, dass sie nicht wirklich schmerzen. Die Ostfriesen lebten sehr frohgemut damit. Aber sie erfanden auch »Abwehr-Witze«:
Frage: Was geschieht, wenn ein Ostfriese nach Österreich auswandert?
Antwort: Dann haben die Ostfriesen einen Deppen weniger und die Österreicher einen Ingenieur mehr.
Der >Monat< beklagte 1970, dass die »rhetorischen Kapazitäten im 6. Deutschen Bundestag minimal« geworden seien. Dabei gab es in den siebziger Jahren ja noch denkwürdige Redeschlachten zwischen Helmut Schmidt und Herbert Wehner auf der einen, Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger auf der anderen Seite. Aber mit der
Wahl 1969 machte sich doch ein Generationswechsel bemerkbar. Und die CDU musste sich mühsam an die Oppositionsrolle gewöhnen. Nur wenige glaubten, dass die »Linken« lange regieren könnten. Sie blieben aber dann fast 14 Jahre.
Willy Brandts Affären mit Frauen wurden Witzthema, wenn auch sehr behutsam.
Eine schöne Fee kommt zu Brandt und verspricht:
»Sie haben drei Wünsche frei.«
»Fräulein«, antwortet der, »dreimal dasselbe!«
Willy Brandt versuchte auch im Osten mit den früheren Feinden friedliche Nachbarschaften zu entwickeln. Dabei ging es auch darum, die Truppenkonzentration der UdSSR in Osteuropa zu verringern. Diese Politik brachte dem Kanzler 1971 den Friedensnobelpreis. Der Witz hielt sich zurück, er griff wieder einmal schon anderswo verwertete Anspielungen auf:
Willy Brandt wandelt morgens immer am Bundeshaus über den Rhein. Er hält sich jetzt für Jesus.
Die FDP galt spätestens seit dem Machtwechsel 1969 als »Mehr-heitsbeschaffer«, als eine Partei, mit der ein Wahlsieger immer dann in einer Koalition regieren kann, wenn er die absolute Mehrheit verpasst hat. Hans-Dietrich Genscher wurde ihr Vorsitzender und der neue starke Mann der Partei, kurze Zeit als Innenminister, dann als der ausdauerndste Außenminister der Republik. Über seine Reiselust witzelte man: