Geary überprüfte die verbleibende Zeit bis zum Zusammen-treffen der beiden Flotten. Die Allianz-Schiffe, die alle ihre Geschwindigkeit gedrosselt hatten, um sich genauso schnell zu bewegen wie die Verlustflotte, flogen vor den Verfolgern mit weniger als 0,02 Licht davon. Die Syndik-Schiffe hatten inzwischen 0,079 Licht erreicht. Geary gab in das Steuersystem der Dauntless ein, davon auszugehen, dass die Syndiks bis auf 0,1 Licht beschleunigen würden, und erhielt als Resultat, dass es in zwei Stunden und einundfünfzig Minuten zum Kontakt kommen würde.
Vorausgesetzt natürlich, die Allianz-Schiffe behielten Geschwindigkeit und Kurs bei. Lange Zeit hatte Gearys Plan vor-gesehen, beim Auftauchen der Verfolgerflotte die Flucht anzutreten, weil deren mutmaßliche Flottenstärke ihm gar keine andere Wahl ließ. Das hatte sich nun geändert, da der Plan mittlerweile vorsah, die Verlustflotte als Waffe gegen den Feind einzusetzen. Wenn die Syndiks nicht irgendwann aus unerfindlichen Gründen die Verfolgung aufgeben sollten, würde er sich früher oder später ohnehin dieser Streitmacht stellen müssen, und jetzt hatte er zumindest eine Chance, ihnen einen entscheidenden Schlag zuzufügen.
»Werden die uns abnehmen, dass wir hier auf sie warten?«, fragte Rione.
»Ich hoffe, sie werden glauben, dass wir überlegen, was wir am besten tun sollen«, erklärte Geary.
Ganz so, wie es im Heimatsystem der Syndiks der Fall gewesen war, als die Allianz-Flotte wertvolle Zeit vergeudet hatte, um darüber zu diskutieren, wer denn nun den Oberbefehl über alle Schiffe übernehmen sollte.
»Die Formation ›Große Hässliche Kugel‹«, fuhr er fort, »wird sie glauben lassen, dass ich nicht mehr das Kommando habe.«
»›Große Hässliche Kugel‹? Ah, verstehe. Sie simulieren Unentschlossenheit und lähmende Panik.«
»Das ist meine Absicht«, bestätigte er und hoffte insgeheim, dass beides auch nur eine Simulation blieb.
Rione kam wieder zu ihm und achtele darauf, dass das ge-räuschdämmende Feld rings um Gearys Kommandosessel aktiviert war. »Sogar mir ist klar, dass das eine sehr riskante Schlacht ist. Wie stehen unsere Chancen?«
»Kommt ganz drauf an«, antwortete er und bemerkte ihre heftige Reaktion. »Ganz ehrlich. Wenn gewisse Dinge so laufen, wie ich sie geplant habe, dann stehen unsere Chancen gut.«
»Und wenn nicht?«
»Dann sieht es düster aus. Aber früher oder später müssen wir sowieso gegen sie kämpfen.«
Sie musterte ihn einige Sekunden lang. »Ich muss Ihnen ja wohl nicht sagen, wie wichtig es ist, dass die Dauntless ins Allianz-Gebiet zurückkehrt. Nicht die ganze Flotte, sondern die Dauntless. Der Hypernet-Schlüssel an Bord kann die entscheidende Wende in diesem Krieg herbeiführen, selbst wenn wir jedes andere Schiff verlieren sollten.«
Er starrte auf das Deck. »Das weiß ich. Warum sagen Sie mir das, wenn Sie wissen, dass Sie es mir eigentlich nicht sagen müssen?«
»Weil Sie immer noch den Schwerpunkt darauf legen, einen möglichst großen Teil der Flotte nach Hause zu bringen. Sie dürfen aber nicht vergessen, worauf es ankommt.
Wenn Sie vor der Wahl stehen, die Dauntless zu verlieren, während Sie versuchen, die Flotte zu retten, oder die Dauntless nach Hause zu bringen, auch wenn noch so viele Allianz-Schiffe vernichtet werden, dann verlangt Ihre Pflicht von Ihnen, sich ganz auf das Wohl der Dauntless zu konzentrieren.«
»Ich brauche keine Vorträge zum Thema Pflicht«, brumm-te Geary. Natürlich hatte Rione mit dem recht, was sie sagte, aber es war nicht das, was er sich anhören wollte.
»Die anderen Schiffe könnten die Verfolger aufhalten, während sich eine schnelle Eingreiftruppe um die Dauntless schart, die mit so vielen Brennstoffzellen beladen ist, wie sie fassen kann, um sich auf den Weg in Richtung Allianz-Gebiet zu machen«, beharrte Rione in gefühllosem Tonfall.
»Um die Flucht zu ergreifen, wollten Sie doch sagen. Sie möchten, dass die Dauntless sich mit ein paar Schiffen da-vonstiehlt, während der Rest seinem Schicksal überlassen wird.«
»Ja!« Wieder schaute er Rione an und erkannte in ihren Augen, dass ihr selbst nicht gefiel, was sie da vorschlug, dass sie sich aber gezwungen sah, darauf zu drängen. Ihre Pflicht.
Die Pflicht gegenüber der Allianz. »Sie müssen in größeren Dimensionen denken, Captain John Geary! Wir alle müssen das! Es geht nicht um das, was wir wollen, sondern um das, was wir tun müssen.«
Abermals sah er aufs Deck. »Was wir tun müssen, um zu gewinnen. Sind wir also wieder an diesem Punkt angelangt?«
Sie erwiderte nichts. »Tut mir leid, aber dafür bin ich der falsche Held. Was Sie vorschlagen, kann ich nicht machen.«
»Es ist noch genug Zeit, um…«
»Ich habe nicht gesagt, dass es nicht machbar ist, sondern dass ich das nicht machen kann. Ich werde diese anderen Schiffe nicht ihrem Schicksal überlassen. Ich lasse nicht zu, dass über-geordnete Interessen für mich das Argument sein sollen, um diesen Männern und Frauen in den Rücken zu fallen, die mir ihr Leben anvertraut haben.«
Flehend und wütend zugleich fauchte Rione: »Die haben alle einen Eid abgelegt, für die Allianz ihr Leben zu geben.«
»Das ist richtig. Und das habe ich auch gemacht.« Schließlich sah er sie wieder an. »Aber ich kann das nicht tun, selbst wenn die Allianz dadurch den Krieg verliert. Der Preis dafür wäre zu hoch.«
Ihre Wut steigerte sich weiter. »Wir können jeden Preis bezahlen, der erforderlich ist, Captain Geary. Für unser Zuhause, für unsere Familien.«
»Soll ich das etwa ihren Familien erzählen? »Bürger der Allianz, ich habe eure Eltern, eure Partner, eure Kinder geopfert, aber ich habe es für euch getan.« Wie viele Leute würden sich wirklich auf diesen Handel einlassen? Hätte irgendjemand, der sich auf einen solchen Handel einlässt, den Sieg überhaupt verdient?«
»Wir alle lassen uns darauf ein, jeden Tag! Das wissen Sie ganz genau. Jeder Zivilist lässt sich darauf ein, wenn er das Militär in den Krieg schickt. Wir wissen, dass diese Leute ihr Leben für uns aufs Spiel setzen.«
Damit hatte sie auch recht, allerdings nicht so ganz. »Diese Leute vertrauen uns, dass wir nicht sinnlos Leben vergeuden«, widersprach Geary. »Ich werde nicht das Leben der Menschen in dieser Flotte gegen einen Hypernet-Schlüssel der Syndiks eintauschen. Ich werde sie führen, und ich werde mit allem kämpfen, was mir zur Verfügung steht, um den Schlüssel nach Hause zu bringen. Aber ich werde nicht deren Leben für diesen Schlüssel abschreiben. Der Moment, in dem ich entscheide, dass jeder Preis gerechtfertigt ist, ist der Augenblick, in dem ich mein Vertrauen und das verrate, was ich als meine Pflicht ansehe. Wir werden gemeinsam siegen oder gemeinsam verlieren, und zwar auf ehrbare Weise.«
Eine Zeit lang starrte Rione ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. »Einerseits bin ich wütend auf Sie, andererseits sehr dankbar dafür, dass ich Sie nicht überzeugen konnte. Ich bin kein Monster, John Geary.«
»Das habe ich auch nie behauptet.« Er drehte sich zum Display um, das die Bewegungen der Kriegsschiffe in diesem System deutlich anzeigte. »Aber viele Menschen werden heute aufgrund der Entscheidungen sterben, die ich bislang getroffen habe und gleich noch treffen werde. Manchmal frage ich mich, was das aus mir macht.«
»Sehen Sie Ihren Kameraden in die Augen, Captain Geary«, erwiderte sie leise. »Jenen Kameraden, die Sie nicht im Stich lassen wollen. Was sich in deren Augen spiegelt, das ist das, was Sie sind.«
Rione kehrte auf ihren Platz zurück. Geary atmete tief durch und bemerkte, dass Captain Desjani zumindest so tat, als ob sie völlig in ihre Arbeit vertieft sei. Er fragte sich, was sie sich wohl über seine Unterhaltung mit Rione zusammenge-reimt haben mochte.