Noch auf seinem Sterbelager wird er diese Worte wiederholen – und selbst dann wird nichts sich regen in seinem steinernen Herzen – in diesem Herzen ohne Makel und Fehl.
O Scheusal der selbstzufriedenen, unbeugsamen, wohlfeilen Tugend – schwerlich kannst du überboten werden von dem nackten Scheusal des Lasters!
Das Fest beim höchsten Wesen
Einstmals beschloß das höchste Wesen, in seinem azurblauen Himmelspalast ein Fest zu geben. Sämtliche Tugenden waren von ihm zu Gaste gebeten. Aber nur die weiblichen... Herren waren nicht geladen... bloß Damen.
Sie hatten sich sehr zahlreich eingefunden – die großen wie die kleinen. Die kleinen Tugenden waren ein wenig zuvorkommender und liebenswürdiger als die großen; doch schienen alle sehr befriedigt – und man unterhielt sich in der artigsten Weise, wie es sich für so nahe Verwandte und Bekannte eben schickt. Mit einem Male bemerkte das höchste Wesen zwei schöne Damen, die sich gegenseitig gar nicht zu kennen schienen.
Der Gastgeber nahm die eine dieser Damen bei der Hand und führte sie zu der anderen.
»Die Wohltätigkeit!« sprach er, auf die erste deutend. »Die Dankbarkeit!« fügte er hinzu und wies auf die zweite. Beide Tugenden gerieten in sprachloses Erstaunen: seitdem die Welt besteht – und sie besteht schon ziemlich lange –, begegneten sie sich zum erstenmal.
Die Sphinx
Gelblich grauer, oben lockerer, unten harter, knirschender Sand... Sand ohne Ende, so weit das Auge reicht!
Und über dieser Sandwüste, über diesem Meer toten Staubes erhebt sich das gigantische Haupt einer ägyptischen Sphinx.
Was wollen sie sagen, diese mächtigen, wulstigen Lippen, diese starr-geschwellten, aufgeworfenen Nüstern – und diese Augen, diese länglichen, halb träumenden, halb wachen Augen unter dem Doppelbogen der hohen Brauen?
Gewiß, sie wollen etwas sagen! Sie reden sogar – doch nur ein Ödipus vermag ihr Rätsel zu lösen und ihre stumme Sprache zu verstehen.
Ha! Nun erkenne ich diese Züge... jetzt haben sie nichts Ägyptisches mehr. Die weiße, niedrige Stirn, die vorspringenden Backenknochen, die kurze, gerade Nase, der hübsche Mund voll weißer Zähne, der weiche Schnurrbart nebst dem krausen Kinnbärtchen – und diese weit auseinanderstehenden kleinen Augen... dazu das Haar, wie eine Mütze den Kopf bedeckend und in der Mitte gescheitelt... Ei, das bist du ja, Karp, Sidor, Semjon, du Bäuerlein aus Jaroslaw, aus Rjäsan, mein Landsmann, ehrliche russische Haut! Seit wann bist du denn unter die Sphinxe geraten?
Oder willst du vielleicht auch etwas sagen? Ja; du bist freilich auch – eine Sphinx.
Auch deine Augen – diese farblosen, aber tiefen Augen reden... Und auch ihre Sprache ist stumm und rätselvoll.
Wo aber ist dein Ödipus?
O Jammer! Die Bauernmütze sich aufzustülpen, ist leider nicht ausreichend, um dein Ödipus zu werden, o du allrussische Sphinx!
Die Nymphen
Ich stand vor einer herrlichen, im Halbkreis ausgebreiteten Gebirgskette; junger grüner Wald bedeckte sie vom Kamm bis zur Sohle.
Über ihr wölbte sich in durchsichtigem Blau der südliche Himmel; aus der Höhe sandte die Sonne ihre spielenden Strahlen herab; drunten, halb verborgen im Grase, murmelten flinke Bächlein.
Da erinnerte ich mich einer alten Sage von einem griechischen Schiffe, das im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt einst über das Ägäische Meer fuhr.
Es war um die Mittagsstunde... In ruhiger Glätte lag die See. Da ertönte mit einem Male hoch über dem Haupte des Steuermanns eine vernehmliche Stimme: »Wenn du dort an der Insel vorbeisegelst, dann lasse laut den Ruf erschallen: ‘Der große Pan ist tot!’«
Der Steuermann staunte... und erschrak. Als aber das Schiff an der Insel vorbeifuhr, da gehorchte er und rief: »Der große Pan ist tot!«
Und sofort erschollen als Antwort auf seinen Ruf längs des ganzen Ufers (obwohl die Insel unbewohnt war) schmerzliche Seufzer, Stöhnen und langgezogene Klagelaute: »Tot, tot! Der große Pan ist tot!«
Diese Sage also war mir eingefallen... und da kam mir der sonderbare Gedanke: »Wie, wenn nun auch ich jetzt diesen Ruf erschallen ließe?«
Doch im Angesichte der rings mich umgebenden Lebenswonne widerstrebte es mir, an den Tod zu denken, und so rief ich denn mit aller Kraft: »Auferstanden, auferstanden ist der große Pan!«
Und sogleich, o Wunder! – erscholl als Antwort auf meinen Ruf längs des ganzen weiten Halbkreises grünender Berge ein fröhliches Lachen, ertönte freudiges Stimmengewirr und Händeklatschen. »Er ist auferstanden! Pan ist auferstanden!« riefen jugendliche Stimmen. – Plötzlich jubelte alles da drüben laut auf, heller als die Sonne in der Höhe und lustiger als das Spiel der Bächlein, die unterm Grase murmelten. Geräusch hurtiger, leichter Fußtritte wurde vernehmbar, durch das Waldesgrün schimmerte das marmorne Weiß wollener Gewänder und die lebensfrische Röte nackter Körper... Nymphen waren es, Nymphen, Dryaden, Bacchantinnen, die von der Höhe ins Tal herniedereilten. Nun erschienen sie alle gleichzeitig am Waldessaum. Lockenhaar fließt um die göttlichen Häupter, edelgeformte Hände schwingen Kränze und Tamburins – und Lachen, freudiges, olympisches Lachen eilt und wogt mit ihnen heran... Vor ihnen her schreitet eine Göttin. Sie ist größer und schöner als alle anderen, – ein Köcher hängt von den Schultern herab, in der Hand trägt sie einen Bogen, auf dem verschlungenen Lockenhaar schimmert eine silberne Mondsichel...
Diana – bist du es?
Plötzlich aber macht die Göttin halt... und gleichzeitig hielt die ganze ihr folgende Nymphenschar inne. Das helle Lachen erstarb. Ich sah, wie sich das Antlitz der plötzlich verstummten Göttin mit einer tödlichen Blässe bedeckte; ich sah, wie ihre Füße versteinerten, wie ihr Mund in unbeschreiblichem Entsetzen sich öffnete und ihre Augen, starr in die Ferne gerichtet, sich weit auftaten... Was hatte sie gesehen? Wohin blickte sie?
Ich wandte mich nach der Richtung, nach der sie sah... Am äußersten Saume des Himmels, hinter dem flachen Streif der Felder flammte wie ein feuriger Punkt das goldene Kreuz auf dem weißen Turm einer christlichen Kirche... Dieses Kreuz hatte die Göttin erblickt. Hinter mir vernahm ich einen zitternden, langen Seufzer, dem Beben einer zerspringenden Saite gleich – und als ich mich wieder umwandte, waren die Nymphen spurlos verschwunden... Der weit ausgedehnte Wald grünte wie zuvor, und nur hie und da, durch das dichte Gezweig hindurch, leuchtete auf und verschwand etwas Weißes. Waren es die Gewänder der Nymphen oder stieg Nebel vom Talgrund auf – ich weiß es nicht.
Wie schmerzlich aber empfand ich das Verschwinden der Göttinnen!
Freund und Feind
Ein zu lebenslänglichem Kerker Verurteilter entkam aus dem Gefängnis und stürzte in wilder Flucht einher... Die Verfolger waren ihm auf den Fersen.
Er rannte aus allen Kräften... Schon begannen die Verfolger nachzulassen.
Da, mit einem Male hemmt ihn ein Fluß mit steilen Ufern – ein schmaler, aber tiefer Fluß... Und er kann nicht schwimmen!
Von einem Ufer zum andern schwebt ein dünnes, angefaultes Brett. Schon hatte der Flüchtling den Fuß darauf gesetzt... Der Zufall wollte nun, daß drüben am Flusse sein bester Freund, sowie sein erbittertster Feind standen.
Der Feind sagte nichts, sondern verschränkte bloß die Arme; der Freund dagegen schrie aus vollem Halse: »Um Gottes willen! Was tust du? Besinne dich, Wahnwitziger! Siehst du denn nicht, daß dieses Brett vollständig verfault ist?! – Es wird unter deiner Last brechen – und du kommst rettungslos um!«