»Es gibt aber doch keine andere Brücke... und hörst du nicht die Verfolger?« stöhnte verzweifelt der Unglückliche und betrat das Brett.
»Das lasse ich nicht zu!... Nein, ich lasse nicht zu, daß du zugrunde gehst!« schrie der eifrige Freund und riß dem Fliehenden das Brett unter den Füßen weg. – Der stürzte jäh in die reißenden Wellen hinab – und ertrank.
Der Feind lachte befriedigt auf – und ging von dannen; der Freund aber setzte sich ans Ufer und zerfloß in bitterlichen Tränen um seinen armen – armen Freund!
Sich selber jedoch die Schuld an dem Unfall beizumessen, das kam ihm gar nicht in den Sinn... nicht einen Augenblick.
»Er hörte nicht auf mich! Hörte nicht!« schluchzte er trostlos.
»Aber wenn auch!« sagte er zum Schluß. »Er hätte ja doch sein ganzes Leben lang im schrecklichen Kerker schmachten müssen! Wenigstens leidet er jetzt nicht mehr! Jetzt ist ihm leichter! Gewiß hat das Schicksal es so gewollt! – Und trotzdem, wie schmerzlich, rein menschlich betrachtet!«
Und die gute Seele vergoß aufs neue bitterliche Tränen um den unglückseligen Freund.
Christus
Ich sah mich als Jüngling, fast noch als Knaben in einer niedrigen Dorfkirche. – Die Flämmchen der dünnen Wachskerzen glühten wie kleine rote Punkte vor den alten Heiligenbildern.
Ein kleiner regenbogenfarbiger Lichtschein umgab jedes einzelne Flämmchen. Es war düster und dämmerig in der Kirche... Vor mir aber standen eine Menge Leute. Lauter schlichte, blonde Bauernköpfe. Von Zeit zu Zeit neigten sie sich, beugten sich herab und erhoben sich wieder gleich reifen Kornähren, wenn der sommerliche Wind wie eine sanfte Woge über sie hinstreicht. Mit einem Male kam jemand von hinten heran und trat neben mich.
Ich wandte mich nicht nach ihm um – aber ich fühlte sofort: dieser Mensch ist – Christus.
Rührung, Neugier und Angst bemächtigten sich meiner im selben Augenblick. Ich nahm mich zusammen... und sah meinen Nachbar an.
Ein Gesicht wie das aller anderen – ein Gesicht, das allen Menschengesichtern gleicht. Die Augen blicken ein wenig aufwärts, andächtig und ruhig. Die Lippen sind geschlossen, aber nicht zusammengepreßt: die Oberlippe ruht gleichsam auf der unteren; der kurze Bart ist in der Mitte geteilt. Die Hände gefaltet und unbeweglich. Auch die Kleidung ist dieselbe wie bei allen übrigen.
»Wie kann das Christus sein!« dachte ich bei mir. »Solch einfacher, einfacher Mensch! Es ist unmöglich!«
Ich kehrte mich ab. Doch ich hatte kaum den Blick von diesem einfachen Menschen abgewandt, als mich wiederum das Gefühl überkam, als stünde wirklich Christus an meiner Seite.
Noch einmal nahm ich mich zusammen... Und wieder erblickte ich dasselbe Antlitz, das allen Menschengesichtern gleicht, dieselben alltäglichen, wenn auch unbekannten Züge.
Da wurde es mir plötzlich schwer ums Herz – und ich kam zu mir. Nun begriff ich erst, daß gerade solch ein Antlitz – ein Antlitz, das allen Menschengesichtern gleicht – Christi Antlitz sei.
Der Stein
Saht ihr wohl schon einmal am Meeresufer einen alten grauen Stein, wenn an einem sonnigen Frühlingstage zur Flutzeit von allen Seiten die frischen Wellen gegen ihn anschlagen – anschlagen, ihn umspielen, umschmeicheln – und sein bemoostes Haupt mit einem Sprühregen glänzenden Perlenschaumes benetzen? Der Stein bleibt wohl derselbe Stein – aber auf seiner Oberfläche erscheinen leuchtende Farben.
Sie zeugen von jener fernen Zeit, da der geschmolzene Granit eben erst zu erstarren begann und noch ganz in feurigen Farben glühte.
So ward auch jüngst mein altes Herz von allen Seiten von jungen Frauenseelen bestürmt – und unter ihrer liebkosenden Berührung röteten sich seine seit langem verblaßten Farben, die Spuren ehemaligen Feuers!
Die Wellen sind wieder zurückgeströmt... die Farben aber sind noch nicht verblichen – mag auch scharfer Wind sie trocknen.
Die Tauben
Ich stand auf dem Rücken eines sanft abfallenden Hügels; vor mir breitete sich schimmernd wie ein Meer von Gold und Silber ein reifes Roggenfeld aus. Keine Wellen aber glitten über dieses Meer; bewegungslos war die schwüle Luft: ein starkes Gewitter braute sich zusammen.
Um mich herum strahlte noch die Sonne heiß und trübe; aber dort, hinter dem Roggenfelde, gar nicht mehr fern, lastete eine schwarzblaue Wolkenwand wie eine gewaltige Masse auf dem ganzen Halbkreise des Horizontes.
Alles war verstummt... alles war erstorben unter der unheildrohenden Glut der letzten Sonnenstrahlen. Nicht ein einziger Vogel war zu hören und zu sehen; sogar die Sperlinge hatten sich versteckt. Nur in der Nähe irgendwo raschelte und klatschte ein einsames großes Klettenblatt.
Wie stark der Wermut am Feldrain duftet! Ich schaute auf die blaue Wolkenmasse... und unruhige Erregung bemächtigte sich meiner. Nur schnell, schnell! dachte ich bei mir, blitze, du goldene Schlange, grolle, Donner! rege dich, wälze dich heran, ströme herab, drohende Wolke, und löse diese beklemmende Dumpfheit!
Doch die Wolke rührte sich nicht. Wie zuvor lastete sie auf der schweigenden Erde... und nur noch mächtiger ballte und verfinsterte sie sich.
Da mit einemmal erschien auf ihrem einfarbigen Blau ein schimmerndes Etwas in gleichmäßiger, schwimmender Bewegung; man konnte auf ein weißes Tüchlein raten oder auf eine Schneeflocke. Es war eine weiße Taube, die vom Dorfe herübergeflogen kam.
Sie flog, flog immer geradeaus, geradeaus... und verschwand hinterm Walde.
Einige Augenblicke vergingen – immer noch herrschte dieselbe furchtbare Stille... Doch sieh! Jetzt schimmern zwei Tüchlein, zwei Schneeflocken schweben zurück: in gleichmäßigem Fluge flattern zwei weiße Tauben heimwärts.
Und jetzt, endlich, brach der Sturm los – und der wilde Tanz begann!
Mit genauer Not erreichte ich das Haus. – Der Wind heult und tobt wie ein Rasender, gleich zerrissenen Fetzen jagen die fahlroten, niederhängenden Wolken dahin, alles dreht sich wirbelnd, stiebt durcheinander, wie eine senkrechte Säule peitscht und stürzt wütender Platzregen herab, die Blitze blenden in grünlichem Feuer, wie Kanonenschüsse krachen die Donnerschläge in kurzen Pausen, es riecht nach Schwefel... Aber unter dem vorspringenden Giebel, hart am Rande des Bodenfensters, sitzen dicht beisammen zwei Tauben – jene, welche nach ihrer Gefährtin ausgeflogen war – und die, welche sie heimgebracht und dadurch vielleicht gerettet hatte.
Beide haben sich dicht in ihr Flaumgefieder eingehüllt – und schmiegen sich Fittich an Fittich...
Ihnen ist wohl! Und auch mir ist wohl, wie ich sie so betrachte... Obgleich ich ganz allein bin... allein wie immer.
Morgen! Morgen!
Wie leer und schal und wie nichtig ist doch fast jeder durchlebte Tag! Wie geringfügig die Spuren, die er hinterläßt! Wie gedankenlos-stumpf verrannen all die Stunden, eine nach der anderen!
Und dennoch klammert sich der Mensch ans Dasein; ihn dünkt das Leben ein Schatz, all seine Hoffnungen baut er darauf, er baut sie auf sich selbst, auf die Zukunft... O, wieviel Glück erwartet er von der Zukunft!
Warum aber bildet er sich ein, daß die anderen, künftigen Tage dem ebenverflossenen nicht gleichen würden?
Doch das bildet er sich ja auch nicht ein. Ihm ist das Grübeln überhaupt zuwider – und er tut wohl daran.
»Ei, morgen, morgen!« – damit tröstet er sich, – so lange, bis ihn dieses Morgen ins Grab senkt.
Nun – und liegst du erst einmal im Grabe – dann hat dein Grübeln ganz von selbst ein Ende.