Die Natur
Mir träumte, ich träte in einen großen, unterirdischen Saal mit hohen Gewölben. Ein gewisses ebenso unterirdisches, gleichmäßiges Licht erfüllte den ganzen Raum.
Mitten im Saal saß ein majestätisches Weib in einem faltenreichen grünen Gewande. Das Haupt auf die Hand gestützt, schien sie in tiefes Nachdenken versunken.
Ich begriff sofort, daß dieses Weib – die Natur selbst war, – und wie plötzlicher kalter Hauch rannen Schauer der Ehrfurcht durch meine Seele.
Ich näherte mich dem sitzenden Weibe und neigte mich ehrerbietig: »O du unser aller gemeinsame Mutter!« rief ich aus. »Worüber sinnst du nach? Gelten deine Gedanken dem künftigen Schicksale der Menschheit? Oder der Frage, wie sie zur höchsten Vollkommenheit und Glückseligkeit gelangen könne?«
Langsam richtete das Weib ihre dunklen, strengen Augen auf mich. Ihre Lippen bewegten sich – und machtvoll erklang eine Stimme wie das Dröhnen des Eisens:
»Ich sinne darüber nach, wie den Beinmuskeln des Flohs eine größere Kraft gegeben werden könne, damit er sich besser vor seinen Feinden zu retten vermöchte. Das Gleichgewicht zwischen Angriff und Gegenwehr ist gestört... Es muß wiederhergestellt werden.«
»Wie?« entgegnete ich stammelnd. »Daran denkst du? Sind denn aber nicht wir – wir Menschen, deine Lieblingskinder?«
Das Weib runzelte leicht die Brauen: »Alle Geschöpfe sind meine Kinder,« sprach sie; »ich sorge für sie alle ohne Unterschied – und ohne Unterschied vernichte ich sie alle.«
»Aber Güte... Vernunft... Gerechtigkeit...« stammelte ich wiederum.
»Das sind Menschenworte,« dröhnte die eherne Stimme. »Ich kenne weder Gut noch Böse... Vernunft ist mir nicht Gesetz – und was ist Gerechtigkeit? – Ich gab dir das Leben – ich werde es dir wieder nehmen und anderen Wesen geben, Würmern oder Menschen... mir ist es einerlei... Du aber wehre dich einstweilen – und laß mich in Ruhe!«
Ich wollte noch etwas erwidern... doch da begann rings die Erde dumpf zu stöhnen und zu beben – und ich erwachte.
Hängt ihn!
»Das geschah im Jahre 1803,« begann mein alter Bekannter, »kurz vor Austerlitz. Das Regiment, in welchem ich als Offizier stand, hatte in Mähren Quartiere bezogen.
Es war uns streng verboten, die Bevölkerung zu beunruhigen und zu drangsalieren; sahen uns die Leute doch ohnehin mit scheelen Augen an, obgleich wir zu ihren Bundesgenossen zählten.
Ich hatte einen Burschen, einen ehemaligen Leibeigenen meiner Mutter, namens Jegor. Er war ein ehrlicher, stiller Mensch; ich kannte ihn von klein auf und behandelte ihn wie einen Freund.
Eines schönen Tages nun erhob sich in dem Hause, in dem ich wohnte, lautes Gezänke und Wehklagen: der Wirtin waren zwei Hühner gestohlen worden, und sie bezichtigte meinen Burschen dieses Diebstahls. Er beteuerte seine Unschuld und rief mich zum Zeugen an... ‘Er und stehlen, er, Jegor Awtamanow!’ Ich suchte die Wirtin von Jegors Ehrlichkeit zu überzeugen, aber sie blieb taub gegen alles.
Mit einem Male scholl lautes Pferdegetrappel die Straße herauf: der Oberbefehlshaber in eigener Person kam mit seinem Stabe vorüber.
Er ritt im Schritt, eine dicke, massige Gestalt, mit gesenktem Kopfe und Epauletten, die bis auf die Brust herabhingen.
Kaum hatte ihn die Wirtin erblickt – als sie sich seinem Pferde entgegenwarf, auf die Knie fiel – und ganz außer sich, mit fliegenden Haaren, meinen Burschen laut anzuklagen begann, wobei sie mit der Hand auf ihn deutete.
‘Herr General!’ schrie sie, ‘Eure Hoheit! Richten Sie! Helfen Sie! Retten Sie! Dieser Soldat hat mich bestohlen!’ Jegor stand auf der Türschwelle, kerzengerade, die Mütze in der Hand, hatte sogar die Brust herausgedrückt und die Hacken aneinandergenommen wie eine Schildwache – und gab nicht einen Laut von sich! Mag sein, daß ihn der Anblick dieser ganzen, mitten auf der Straße haltenden Generalität aus der Fassung brachte, daß er im Vorgefühl des über ihn hereinbrechenden Unheils zu Stein erstarrte – mein armer Jegor stand bloß da und blinzelte mit den Augen, im Gesicht aber fahl wie Tonerde.
Der Oberbefehlshaber warf einen zerstreuten, finsteren Blick auf ihn und brummte zornig: ‘Nun?’... Jegor steht da wie eine Bildsäule und zeigt grinsend seine Zähne! Ein Unbeteiligter hätte wirklich glauben können, der Kerl lache.
Da sprach der Oberbefehlshaber kurz und bündig: ‘Hängt ihn!’ gab seinem Pferde die Sporen und ritt weiter – zuerst wieder im Schritt – dann in scharfem Trabe. Der ganze Stab rasselte hinter ihm her; nur ein einzelner Adjutant wandte sich im Sattel um und warf Jegor einen flüchtigen Blick zu.
Den Befehl zu mißachten, war ganz unmöglich... Jegor wurde sofort festgenommen und zur Exekution abgeführt. Da brach er völlig zusammen – und rief mit erstickter Stimme nur ein paarmaclass="underline" ‘Mein Gott! Mein Gott!’ – dann halblaut: ‘Gott droben weiß es, ich wars nicht!’ Bitterlich weinte er, als er von mir Abschied nahm. Ich war in Verzweiflung. ‘Jegor! Jegor!’ schrie ich, ‘warum hast du denn bloß dem General nicht geantwortet?’ ‘Gott droben weiß es, ich wars nicht,’ wiederholte der Ärmste schluchzend. – Selbst die Wirtin war entsetzt. Solch fürchterlichen Ausgang hatte sie gar nicht für möglich gehalten, und nun fing auch sie zu heulen an! Alle und jeden flehte sie um Schonung an, versicherte, daß sich ihre Hühner gefunden hätten, daß sie bereit sei, alles aufzuklären...
Natürlich war alles dies vollkommen fruchtlos. Im Kriege, mein lieber Herr, heißts eben Mannszucht! Disziplin! Die Wirtin heulte immer lauter und lauter. Als ihm der Geistliche bereits die Beichte abgenommen und das Abendmahl gereicht hatte, wandte sich Jegor zu mir: ‘Sagen Sie ihr, Euer Wohlgeboren, sie möchte sich nicht so grämen... Ich habe ihr ja schon verziehen.’«
Als mein Bekannter diese letzten Worte seines Burschen wiederholt hatte, flüsterte er leise: »Jegoruschka, mein Täubchen, du brave Seele!« – und dabei rannen ihm die Tränen über die gefurchten Wangen.
Was ich wohl denken werde...
Was ich wohl denken werde in dem Augenblicke, da die Sterbestunde schlägt – wenn ich dann überhaupt noch werde denken können?
Werde ich daran denken, wie schlecht ich mein Leben angewandt habe, wie ich es verschlief, verträumte, seine Gaben nicht zu genießen verstand?
»Wie? Ist das schon der Tod? So schnell? Unmöglich! Ich habe ja doch noch nichts leisten können... Ich wollte ja eben erst an die Arbeit gehen!«
Werde ich an Vergangenes denken, im Geiste bei einigen wenigen köstlich durchlebten Augenblicken verweilen, bei teuren Bildern und Gestalten?
Werden meine bösen Taten in meiner Erinnerung wach werden – und wird meine Seele von dem brennenden Schmerz verspäteter Reue gequält werden? Werde ich daran denken, was jenseit des Grabes meiner wartet... und wartet dort überhaupt etwas meiner?
Nein... ich glaube, ich werde mich bemühen, gar nicht zu denken – und mich nach Möglichkeit mit irgendwelchen Lappalien abgeben, bloß um meine Aufmerksamkeit von der drohenden Finsternis, die sich schwarz vor mir auftut, abzulenken.
Einst jammerte ein Sterbender mir unausgesetzt vor, daß man ihm keine Nüsse zu essen geben wolle... und nur dort, in der Tiefe seiner verlöschenden Augen zuckte und zitterte etwas wie die gebrochene Schwinge eines zu Tode verwundeten Vogels.
Wie frisch und duftig waren doch die Rosen...
Vor langer, langer Zeit las ich einmal irgendwo ein Gedicht. Ich vergaß es bald wieder... die erste Zeile aber blieb mir im Gedächtnis:
»Wie frisch und duftig waren doch die Rosen...«
Winter ist es jetzt; der Frost hat die Fensterscheiben dick bereift; im dunklen Zimmer brennt ein einziges Licht. Ich sitze da, in einen Winkel gedrückt; in meinem Kopfe aber klingt es und klingt immerzu: