Ich blickte die Allee hinunter und gewahrte einen jungen Sperling mit gelbgerandetem Schnabel und Flaum auf dem Köpfchen. Er war aus dem Neste gefallen – heftiger Wind schüttelte die Birken der Allee – und hockte unbeweglich, hilflos seine kaum hervorgesprossenen Flügelchen ausstreckend.
Langsam näherte mein Hund sich ihm, als plötzlich, von einem nahen Baume sich herabstürzend, der alte schwarzbrüstige Sperling wie ein Stein gerade vor seine Schnauze zu Boden fiel und völlig zerzaust, verstört, mit verzweifeltem, kläglichem Gezeter mehrmals gegen den scharfgezahnten, geöffneten Rachen lossprang. Er warf sich über sein Junges, um es zu retten, mit dem eigenen Leibe wollte er es schützen... doch sein ganzer kleiner Körper bebte vor Schrecken, sein Stimmchen klang wild und heiser, Betäubung erfaßte ihn, er opferte sich selbst!
Als welch riesengroßes Untier mußte ihm der Hund erscheinen! Und dennoch hatte er nicht auf seinem hohen, sicheren Aste zu bleiben vermocht... Eine Macht, stärker als sein Wille, riß ihn von dort herab.
Mein Tresor hielt inne, wich zurück... Sichtlich begriff auch er diese Macht.
Schnell rief ich meinen verblüfften Hund zurück und entfernte mich, Ehrfurcht im Herzen.
Ja; lächelt nicht darüber. Ehrfurcht empfand ich vor diesem kleinen heldenmütigen Vogel, vor der überströmenden Kraft seiner Liebe.
Die Liebe, dachte ich, ist stärker als der Tod und die Schrecken des Todes. Sie allein, allein die Liebe erhält und bewegt unser Leben.
Die Totenschädel
Ein prachtvoller, glänzend erleuchteter Saal; eine zahlreiche Gesellschaft von Herren und Damen. Ringsum lebensprühende Gesichter und eifrige Gespräche... Die sprudelnde Unterhaltung dreht sich um eine berühmte Sängerin. Man vergöttert sie, nennt sie unsterblich... O, wie herrlich hat sie gestern ihren letzten Triller hinausgeschmettert!
Und plötzlich – wie auf den Wink eines Zauberstabes – verschwand von allen Köpfen und allen Gesichtern die zarte Hülle der Haut, und augenblicklich erschienen die Schädel in ihrer Totenblässe, traten Kiefer und Backenknochen in bleigrauer Farbe hervor.
Mit Entsetzen sah ich, wie sich alle diese Kiefer und Backenknochen bewegten und rührten – wie sich diese rundlichen, knöchernen Kugeln, im Scheine der Lampen und Kerzen widerstrahlend, hin und her wendeten – und wie sich in ihnen andere kleinere Kugeln drehten, die ausdruckslosen Augäpfel.
Ich wagte nicht, mein eigenes Antlitz zu berühren, wagte auch nicht, mich im Spiegel zu betrachten.
Die Totenschädel aber drehten sich wie zuvor... Und mit derselben Lebhaftigkeit, kleine rote Lappen zwischen den fleischlosen Kinnladen geläufig hin und her bewegend, schwatzten die geschäftigen Stimmen davon, wie wunderbar, wie unübertrefflich die unsterbliche... ja, die unsterbliche Sängerin ihren letzten Triller hinausgeschmettert habe!
Die Tagelöhner und der Weißhändige
Ein Gespräch
Tagelöhner
Was drängst du dich zu uns? Was willst du? Du gehörst nicht zu uns... Mach, daß du weiterkommst!
Der Weißhändige
Ich gehöre zu euch, Brüder!
Tagelöhner
Das wäre doch! Zu uns! Was fällt dir denn ein? Schau mal auf meine Hände. Siehst du, wie schmutzig die sind? Nach Dünger riechen sie und nach Teer, – deine Hände aber sind weiß. Wonach riechen die denn?
Der Weißhändige (seine Hände hinhaltend)
So rieche doch!
Tagelöhner (sie beriechend)
Was ist denn das? Gerade als röchen sie nach Eisen.
Der Weißhändige
Nach Eisen, so ist es. Volle sechs Jahre trug ich sie in Ketten.
Tagelöhner
Warum denn das?
Der Weißhändige
Darum, weil ich für euer Wohl gearbeitet habe, weil ich euch befreien wollte, euch geplagte, stumpfe Menschen; weil ich auftrat gegen eure Bedrücker, revoltierte... Da haben sie mich denn gefangengesetzt.
Tagelöhner
Gefangengesetzt? Ja, wer hieß dich denn auch revoltieren?!
– Zwei Jahre später –
Einer derselben Tagelöhner (zum anderen)
Hör mal, Peter... Du weißt doch noch, wie im vorvorigen Jahr so ’n weißhändiger Kerl mit dir schwatzte?
Zweiter Tagelöhner
Freilich... na, und?
Erster Tagelöhner
Nun, hängen werden sie ihn heute; so ’n Befehl ist gekommen.
Zweiter Tagelöhner
Hat er denn wieder revoltiert?
Erster Tagelöhner
Wieder revoltiert!
Zweiter Tagelöhner
Na... Weißt du was, Bruder Dmitry: laß uns zusehen, daß wir den Strick kriegen, mit dem er gehängt wird; so was soll doch ’n mächtiges Glück ins Haus bringen!
Erster Tagelöhner
Hast recht. Wollen doch zusehen, Bruder Peter.
Die Rose
Es war in den letzten Tagen des August... Der Herbst hatte bereits seinen Einzug gehalten.
Die Sonne ging unter. In plötzlichen, heftigen Güssen, doch ohne Donner und Blitz, war eben ein starker Regenschauer über unsere weite Ebene hinweggezogen. Der Garten vor dem Hause glühte und dampfte, ganz überflutet vom flammenden Abendrot und dem Naß des Regens.
Sie saß am Tisch im Wohnzimmer und blickte in starrem Nachdenken durch die halboffene Tür in den Garten hinaus.
Ich wußte, was damals in ihrer Seele vorging; wußte, daß sie nach einem kurzen, aber schmerzlichen Ringen sich in diesem Augenblick einem Gefühle ergab, das sie nicht länger zu bemeistern imstande war.
Plötzlich erhob sie sich, ging schnell in den Garten hinaus und verschwand.
Es verging eine Stunde... und noch eine Stunde: sie kam nicht wieder.
Da stand ich auf, trat aus dem Hause und wandte mich nach der Allee, durch welche – wie ich bestimmt voraussetzte – auch sie gegangen war.
Rings war alles in Dunkel gehüllt; die Nacht war schon hereingebrochen. Trotzdem war auf dem feuchten Kieswege, selbst durch den dichten Schleier der Finsternis hindurch noch rötlich schimmernd, ein rundlicher Gegenstand erkennbar.
Ich beugte mich herab. Es war eine junge, kaum aufgeblühte Rose. Noch vor zwei Stunden hatte ich dieselbe Rose an ihrem Busen gesehen.
Behutsam hob ich die in den Schmutz gefallene Blume auf, kehrte zum Wohnzimmer zurück und legte sie vor ihren Stuhl auf den Tisch.
Endlich kam auch sie zurück – durchmaß mit leichten Schritten das Zimmer und setzte sich an den Tisch. Ihr Antlitz war jetzt blasser, aber auch belebter; unstet, mit einem Anfluge lächelnder Befangenheit, irrten ihre gesenkten, scheinbar verkleinerten Augen umher. Da bemerkte sie die Rose, ergriff sie, betrachtete ihre zerdrückten, beschmutzten Blätter, blickte dann auf mich – und nun, plötzlich innehaltend, erglänzten ihre Augen in Tränen.
»Warum weinen Sie?« fragte ich.
»Um diese Rose da. Sehen Sie doch, was aus ihr geworden ist.«
Da versuchte ich es mit einer leisen Anspielung. »Ihre Tränen werden diese Flecken abwaschen,« bemerkte ich mit vielsagender Betonung.
»Tränen waschen nicht ab, Tränen versengen,« entgegnete sie, wandte sich zum Kamin und warf die Blume in die ersterbende Flamme.
»Feuer versengt noch besser als Tränen,« rief sie mit einer gewissen Entschlossenheit, – und ihre schönen Augen, in denen die Tränen noch schimmerten, strahlten in mutvollem und beglücktem Lächeln.
Da wußte ich, daß auch sie versengt war.
Letztes Wiedersehen
Wir waren einst Freunde, enge, treue Freunde... Doch es kam ein verhängnisvoller Augenblick – und wir entfremdeten uns, wurden Feinde.
Viele Jahre vergingen... Da kam ich eines Tages auf der Durchreise in die Stadt, in der er wohnte, und erfuhr, daß er hoffnungslos darniederliege und mich wiederzusehen wünsche.