Donald saß noch immer reglos auf der Treppe. Ich drückte ihm den Becher heißer, süßer Flüssigkeit in die Hände und forderte ihn auf zu trinken. Mechanisch setzte er ihn an die Lippen.
«Sie ist freitags… nie zu Hause«, sagte er.
«Nein«, stimmte ich zu und fragte mich, wer wohl sonst noch wußte, daß hier freitags niemand war.
Langsam tranken wir unseren Tee. Dann stellte ich die beiden Becher weg und setzte mich wieder neben ihn. Die meisten Dielenmöbel waren verschwunden. Der kleine
Sheraton-Schreibtisch… der mit Nägeln beschlagene
Ledersessel… die Kutschenuhr aus dem neunzehnten
Jahrhundert…
«Herrgott, Charles«, sagte er.
Ich blickte ihm ins Gesicht. Tränen und fürchterlicher
Schmerz. Nichts, gar nichts konnte ich tun, um ihm zu helfen.
Der unbeschreibliche Abend zog sich bis Mitternacht und länger hin. Die Polizei arbeitete durchaus gründlich, war höflich und auch verständnisvoll, machte aber keinen Hehl daraus, daß sie eher dafür zuständig war, Verbrecher zu fangen, als Opfer zu trösten. Außerdem schien mir in vielen ihrer
Fragen ein leiser Argwohn mitzuschwingen, da Einbrüche auf Bestellung gutversicherter Hausherren immerhin schon vorgekommen waren und selbst die einfachsten
Betrugsmanöver bekanntlich furchtbar danebengehen konnten.
Donald merkte offenbar nichts davon. Er antwortete müde, automatisch, manchmal erst nach langem Schweigen.
Ja, die fehlenden Gegenstände waren gut versichert.
Ja, die Versicherung lief schon seit Jahren.
Ja, er war den ganzen Tag wie üblich im Büro gewesen.
Ja, außer zum Mittagessen. Ein Sandwich in einer Kneipe.
Er war Weinimporteur.
Seine Firma saß in Shrewsbury.
Er war siebenunddreißig.
Ja, seine Frau war viel jünger. Zweiundzwanzig.
Über Regina konnte er nur stotternd sprechen, als wollten ihm Zunge und Lippen nicht gehorchen. F-freitags arbeite sie immer… im B-blumenladen einer Freundin.
«Wieso?«
Donald sah den Kriminalinspektor, der ihm am Eßzimmertisch gegenübersaß, geistesabwesend an. Die zum Tisch gehörenden antiken Stühle waren fort. Donald saß in einem Gartenstuhl, den sie aus der Glasveranda geholt hatten. Der Inspektor, ein Kriminalassistent und ich saßen auf Hockern.
«Bitte?«
«Wieso hat sie freitags in einem Blumenladen gearbeitet?«
«Sie… sie… ich… es macht ihr…«
Ich mischte mich ein.»Sie war Floristin, bevor sie Donald geheiratet hat. Das wollte sie nicht ganz aufgeben. Freitags hat sie immer Blumenarrangements für Tanzfeste, Hochzeiten und ähnliche Anlässe gefertigt…«Auch Kränze, dachte ich, ohne es auszusprechen.
«Vielen Dank, Sir, aber ich bin sicher, Mr. Stuart kann uns selbst antworten.«»Das kann er eben nicht.«
Der Inspektor richtete sein Augenmerk auf mich.
«Er steht unter Schock«, sagte ich.
«Sind Sie Arzt, Sir?«Die höfliche Skepsis in seiner Stimme war durchaus verständlich. Ich schüttelte gereizt den Kopf. Er sah Donald an, schürzte die Lippen und wandte sich wieder zu mir. Sein Blick schweifte über meine Jeans, die verwaschene Drillichjacke, den hellbraunen Rolli, die Wüstentreter und kehrte unbeeindruckt zu meinem Gesicht zurück.
«Also gut, Sir. Ihr Name?«
«Charles Todd.«
«Alter?«
«Neunundzwanzig.«
«Beruf?«
«Maler.«
Der Assistent schrieb diese faszinierenden Einzelheiten ungerührt in sein kleines Notizbuch.
«Anstreicher oder Künstler?«fragte der Inspektor.
«Künstler.«
«Und wo kommen Sie jetzt her?«
«Ich bin um 14.30 Uhr in Paddington in den Zug gestiegen und vom Bahnhof zu Fuß hierhergekommen.«
«Zweck des Besuchs?«
«Kein bestimmter. Ich bin jedes Jahr ein- oder zweimal hier.«
«Befreundet also?«
«Ja.«
Er nickte unverfänglich. Wandte seine Aufmerksamkeit wieder Donald zu und befragte ihn weiter, aber geduldig und ohne zu drängen.
«Wann kommen Sie denn normalerweise freitags nach Hause, Sir?«
Don sagte tonlos:»Gegen fünf.«
«Und heute?«
«Heute auch. «Seine Gesichtsmuskeln zuckten krampfhaft.»Ich habe gesehen… daß eingebrochen worden war… und habe die Polizei… «
«Ja, Sir. Wir erhielten Ihren Anruf um siebzehn Uhr sechs. Und nachdem Sie uns verständigt hatten, sind Sie ins Wohnzimmer gegangen, um zu sehen, was dort entwendet worden war?«
Donald schwieg.
«Wie Sie wissen, fand Sie unser Sergeant ja dort.«
«Wieso?« sagte Donald gequält.»Wieso ist sie heimgekommen?«
«Das werden wir wohl herausfinden, Sir.«
Die vorsichtige Befragung zog sich endlos hin, führte aber, soweit ich es beurteilen konnte, zu nichts, außer daß sie Donald an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieb.
Ich bekam ganz gewöhnlichen, in dieser Situation aber doch ein wenig beschämenden Hunger, da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Mit Bedauern dachte ich an das freudig erwartete Abendessen, an Regina, wie sie mit lockerer Hand Zutaten mischte, Kräuter und Wein beigab und immer wieder scheinbar spielend ein Festmahl auf den Tisch brachte. Regina mit ihrem dunklen Pagenkopf und dem vergnügten Lächeln, schwatzhaft, für jeden Spaß zu haben, aber strikt gegen Fuchsjagden. Eine junge Frau, die niemandem etwas zuleide tun konnte — ermordet.
Irgendwann am Abend wurde ihr Leichnam in einen Krankenwagen geladen und fortgebracht. Ich hörte es, Donald aber sah nicht so aus, als registrierte er, was vorging. Wahrscheinlich errichtete er innerlich Schranken gegen das Unerträgliche, und das konnte man ihm kaum verdenken.
Schließlich stand der Inspektor auf und streckte seine Glieder, die von dem Hocker ganz verspannt waren. Er sagte, er werde für die Nacht einen Mann als Wache zurücklassen und am Morgen selbst wiederkommen. Donald, der offensichtlich nicht recht hingehört hatte, nickte zerstreut und saß, als die Polizei fort war, immer noch unbeweglich auf dem Gartenstuhl, ohne Kraft, sich aufzuraffen.
«Komm«, sagte ich.»Gehen wir schlafen.«
Ich nahm ihn beim Arm, bewog ihn aufzustehen und führte ihn die Treppe hinauf. Benommen, ohne Widerrede kam er mit.
Ihr Schlafzimmer sah wie ein Schlachtfeld aus, aber das Zweibettzimmer, das sie für mich hergerichtet hatten, war verschont geblieben. Er ließ sich angekleidet auf das eine Bett fallen, legte den Arm übers Gesicht und stellte in fürchterlicher Verzweiflung die Frage, die alle Leidtragenden dieser Welt bewegt:
«Warum? Warum mußte gerade uns das passieren?«
Ich blieb acht Tage bei Donald, und einige Fragen, wenn auch nicht diese eine, wurden bis dahin beantwortet.
Eine ganz einfache Erklärung gab es für Reginas vorzeitige Heimkehr. Zwischen ihr und der befreundeten Floristin war es nach wochenlang unterdrückter Verstimmung zu einem so heftigen Streit gekommen, daß Regina auf der Stelle gekündigt hatte. Sie war gegen halb drei gegangen und wahrscheinlich direkt nach Hause gefahren, denn man schätzte, daß sie um fünf bereits zwei Stunden tot war.
Diese in Kanzleisprache abgefaßte Auskunft erteilte der Inspektor Donald am Samstag nachmittag. Donald ging in den herbstlichen Garten und weinte.
Der Inspektor, ein kühler Kopf mit Namen Frost, kam leise zu mir in die Küche und beobachtete Donald, der gebeugt zwischen den Apfelbäumen stand.
«Erzählen Sie mir bitte, was Sie über die Beziehung zwischen Mr. und Mrs. Stuart wissen.«