Als ich die Wellington Road entlangging und zur Swanston Street kam, fragte ich mich, ob der junge Terpentinwerfer wohl dort war, und wenn ja, ob er mich erkennen würde. Ich hatte sein Gesicht nur flüchtig gesehen, da ich die meiste Zeit hinter ihm gestanden hatte. Ausgehen konnte ich nur von hellbraunen Haaren, Akne am Kinn, einer runden Kieferpartie und vollen Lippen. Unter zwanzig. Vielleicht erst siebzehn. Bekleidet mit Bluejeans, weißem T-Shirt, Tennis schuhen. Ungefähr einssiebzig, fünfundsechzig Kilo. Flink, aber auch schreckhaft. Und kein Maler.
Yarra River war geöffnet, hell erleuchtet, und mitten im Schaufenster prangte auf einer vergoldeten Staffelei ein Pferdebild. Kein Munnings. Das Porträt eines australischen Pferdes mit Reiter, jedes Detail scharf abgegrenzt, einfühlsam, aber für meinen Geschmack zu bemüht. Daneben, gold auf schwarz geprägt, der Hinweis auf eine Sonderausstellung herausragender Pferdemalerei, und auf einem weniger aufwendigen, aber größer geschriebenen Schild stand:»Willkommen zum Melbourne Cup«.
Die Galerie war angelegt wie tausend andere auf der Welt, ein langer, schmaler Raum, der von der Straße aus weit nach hinten führte. Zwei oder drei Leute schlenderten drinnen umher und betrachteten die Bilder an den gut beleuchteten grauen Wänden.
Eigentlich hatte ich hineingehen wollen. Das wollte ich immer noch, aber ich zögerte vor dem Eingang, als stünde ich am Start zu einem Skisprung. Albern, dachte ich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn du nicht nachsiehst, findest du nichts.
Ich nahm mich zusammen, holte tief Luft und trat über die einladende Schwelle.
Graugrüner Teppichboden, ganz in Türnähe ein antiker Schreibtisch, an dem eine junge Frau breit lächelnd schmale Kataloge ausgab.
«Schauen Sie sich ruhig um«, sagte sie.»Auch unten hängen Bilder.«
Sie reichte mir den Katalog, eine milchweiße Mappe mit einem gehefteten, maschinegeschriebenen Verzeichnis. Ich blätterte darin. Einhundertdreiundsechzig Exponate, fortlaufend numeriert, jeweils mit Titel, Name des Künstlers und Preis. Bereits verkaufte Bilder, hieß es, seien mit einem roten Punkt am Rahmen gekennzeichnet.
Ich dankte der Frau.»Bin zufällig vorbeigekommen«, sagte ich.
Sie nickte und lächelte geschäftsmäßig, während ihre Blicke rasch über meine Jeans und Jeansjacke glitten und sie mich als nicht dem Jet-set zugehörig einstufte. Sie selbst trug nonchalant die neueste Mode und strahlte die Offenheit aus, mit der man Millionäre angelt. Australierin, selbstbewußt und eine zu starke Persönlichkeit, um bloß Empfangsdame zu sein.
«Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte sie.
Ich ging langsam durch den ganzen Raum und las die Katalogangaben zu den Bildern. Es waren vorwiegend australische Künstler, und ich begriff, was Jik unter starker Konkurrenz verstand. Der Markt war mindestens so überlaufen wie zu Hause und das Niveau in mancher Hinsicht besser. Wenn ich mich mit der glänzenden Begabung anderer konfrontiert sah, erschien mir das eigene Können mitunter zweifelhaft.
Hinten im Parterre ging eine Treppe nach unten, geschmückt mit einem Pfeil und dem Hinweis:»Ausstellung auch im Basement«.
Ich ging hinunter. Gleicher Teppichboden, gleiche Beleuchtung, aber keine Besucher, die sich anhand des Katalogs die Bilder anschauten.
Unten bestand die Galerie nicht aus einem durchgehenden Raum, sondern aus mehreren kleineren, die von einem langen Flur abgingen, weil man die tragenden Wände und Zwischenwände offenbar nicht ohne weiteres hatte wegnehmen können. Ein Raum hinter der Treppe diente als Büro, ausgestattet mit einem edlen Schreibtisch, zwei oder drei bequemen Sesseln für Kaufinteressenten und einer Reihe gediegener Aktenschränke mit Teakfurnier. Bilder in schweren Rahmen schmückten die Wände, und ein schwergewichtiger Mann saß am Schreibtisch über einem Hauptbuch.
Er hob den Kopf, als er mich vor seiner Tür bemerkte.
«Kann ich etwas für Sie tun?«
«Ich sehe mich nur um.«
Er nickte uninteressiert und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Alles hier machte im Gegensatz zu dem windigen Schuppen in Sydney einen soliden und beständigen Eindruck. So ein achtbares Geschäft, dachte ich, konnte nicht das sein, wonach ich suchte. Ich war auf dem Holzweg. Wahrscheinlich mußte ich warten, bis mir Hudson Taylor etwas zu Donalds Scheck sagte, und mich neu orientieren.
Seufzend ging ich weiter durch die Räume, da es nicht schaden konnte, sich von der Konkurrenz ein Bild zu machen. An einigen Rahmen klebten rote Punkte, aber die wirklich guten Sachen hatten Preise, die nur Leute mit viel Geld erschwingen konnten. Im letzten Raum, der größer als die anderen war, stieß ich auf die Munnings’. Drei. Alle mit Pferden: eine Rennsportszene, eine Jagdszene, eine mit Zigeunern.
Im Katalog waren sie nicht aufgeführt.
Sie hingen einfach so zwischen ähnlichen Sujets von anderer Hand, und für mich stachen sie heraus wie Vollblüter zwischen Mietpferden.
Schauer liefen mir über den Rücken. Grund dafür war nicht nur die handwerkliche Meisterschaft, sondern eins der Bilder selbst. Pferde beim Aufgalopp. Eine lange Reihe von Jockeys, leuchtend vor einem dunklen Himmel. Die Farben des vordersten Reiters, Purpur mit grüner Kappe.
Maisies geschwätzige Stimme klang mir im Ohr, wie sie beschrieb, was ich vor mir sah:»… auch wenn Sie das jetzt albern finden, das war mit ein Grund, warum ich es gekauft habe… weil Archie und ich Purpur mit grüner Kappe als Farben nehmen wollten, wenn die noch nicht vergeben waren…«
Munnings hatte für Schatten und Hintergründe immer gern Purpur und Grün verwendet. Trotzdem… Dieses Bild entsprach in Format, Sujet und Farbgebung genau demjenigen von
Maisie, das hinter einem Heizkörper versteckt gewesen war und in ihrem Haus verbrannt sein sollte.
Das Bild vor mir sah echt aus. Die richtige Patina für die Jahrzehnte, die seit Munnings’ Tod vergangen waren, hervorragende Technik, genau das gewisse Etwas, das die Großen von den Guten unterscheidet. Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger über die bemalte Leinwand. Nirgends etwas, das nicht hingehörte.
Eine Stimme mit britischem Akzent sagte hinter mir:»Kann ich etwas für Sie tun?«
«Ist das ein Munnings?«fragte ich beiläufig und drehte mich um.
Er stand in der Tür und sah mich mit der vorsichtigen Hilfsbereitschaft von jemand an, dessen kostbarste Ware von einem offenbar zu wenig zahlungskräftigen Kunden bewundert wird.
Ich erkannte ihn sofort. Nach hinten gekämmtes, schütteres braunes Haar, graue Augen, hängender Schnurrbart, sonnengebräunte Haut — dreizehn Tage zuvor gesehen im englischen Sussex, wo er in einer Brandruine am Meer herumstocherte.
Mr. Greene, mit >e< am Schluß.
Er brauchte nur einen Sekundenbruchteil länger. Verwirrung, während er von mir zum Bild und wieder zu mir schaute, dann die schlagartige Erkenntnis, wo er mich schon einmal gesehen hatte. Jäh trat er einen Schritt zurück und griff an die Wand.
Ich war schon auf dem Weg zur Tür, aber nicht schnell genug. Am Eingang fiel ein Stahlgitter herab und rastete in ein Schloß am Boden ein. Mr. Greene stand draußen, immer noch ungläubig staunend, mit offenem Mund. Ich vergaß meine wohlfeile Ansicht über Gefahren, die stark machen, und hatte Angst wie noch nie.
«Was ist los?«rief eine tiefe Stimme vom Gang her.
Mr. Greene brachte keinen Ton heraus. Der Mann aus dem Büro erschien an seiner Seite und sah mich durch das Gitter an.
«Ein Dieb?«fragte er verärgert.
Mr. Greene schüttelte den Kopf. Ein dritter Mann kam dazu, mit neugierigem Gesicht und Akne auf der Haut, als hätte er die Masern.
«Hoppla«, rief er überrascht in australischem Englisch.»Das ist der Typ aus dem Arts Centre. Der hinter mir her war. Ich schwöre, daß ich ihn abgehängt habe. Ehrenwort.«
«Halt den Mund«, sagte der Mann vom Büro nur. Er sah mir fest in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick.
Ich stand mitten in einem rund fünf mal fünf Meter großen, hellerleuchteten Raum. Keine Fenster. Kein Ausgang außer der vergitterten Tür. Abgehoben von der Sprungschanze, ohne Aussicht auf eine sanfte Landung.