«Du würdest mir nie verzeihen.«
Sie lächelte verschämt.»Ganz genau.«
Soweit ich es beurteilen konnte, hatten wir die Rennbahn unbeobachtet verlassen, und zum Flughafen war uns mit Sicherheit niemand gefolgt. Weder Greene mit >e< noch der jugendliche Nichtmaler stellten uns ein Bein, und wir reisten unbehelligt in einem halbleeren Flugzeug nach Adelaide, und von dort in einem noch leereren nach Alice Springs.
Nördlich von Adelaide wurde aus dem frischen Grün der Landschaft unter uns nach und nach ein Graugrün und schließlich ein feuriges Ziegelrot.
«Glau«, sagte Jik, nach unten deutend.
«Bitte?«
«G-L-A-U«, sagte er.»Die gähnende Leere Australiens.«
Ich lachte. Der Landstrich sah nach gebrannter, unwohnlicher, urzeitlicher Erde aus, und doch gab es einzelne Fahrstraßen und unglaublich abgelegene Gehöfte. Fasziniert schaute ich hinaus, bis es dunkel wurde und wir uns in heranflutendem Purpur dem zentralen Wüstengürtel näherten.
Die Nachtluft in Alice Springs war so heiß, als hätte jemand vergessen, den Ofen abzustellen. Das Glück, das uns in Melbourne sofort ein Flugzeug beschert hatte, hielt offenbar noch an: Ein wortkarger Taxifahrer brachte uns schnurstracks zu einem neu aussehenden Motel, in dem wir Zimmer bekamen.
«Die Saison ist vorbei«, brummte er, als wir uns freudig bei ihm bedankten.»Bald ist es für Touristen hier zu heiß.«
Die Zimmer waren jedoch klimatisiert. Jik und Sarah hatten eins im Erdgeschoß, mit Zugang zu einem Laubengang, der an einen kleinen Garten mit Schwimmbecken grenzte. Meins lag im zweiten Stock in einem Seitenflügel gegenüber dem Parkplatz und war über eine von Bäumen beschattete Außentreppe und einen langen, offenen Balkon zu erreichen. Das Ganze sah im Licht der diskret in Palmen und Gummibäumen angebrachten Scheinwerfer grün und friedlich aus.
Da das Restaurant des Motels seit acht geschlossen war, gingen wir die Hauptstraße hinunter in ein anderes. Die Straße war geteert, aber manche Querstraßen nicht, und auch die Gehsteige waren nicht alle gepflastert. Oft genug liefen wir auf bloßem Splitt, und an dem feinen Staub im Scheinwerferlicht vorbeifahrender Wagen sahen wir, daß der Splitt knallrot war.
«Bull-dust«, sagte Sarah.»Den sehe ich zum ersten Mal. Meine Tante behauptet, der hat sich sogar in ihrem geschlossenen Kofferraum abgesetzt, als sie und mein Onkel zum Ayers Rock gefahren sind.«
«Was ist der Ayers Rock?«
«Unwissender Brite«, meinte Sarah.»Das ist ein drei Kilometer langer und fünfhundert Meter hoher Sandsteinberg, den irgendein treuloser Eiszeitgletscher da hinterlassen hat.«
«Mitten in der Wüste«, setzte Jik hinzu.»Ein uralter magischer Ort, der regelmäßig von der Plastikgesellschaft entweiht wird.«
«Wart ihr schon mal da?«fragte ich trocken.
Er grinste.»Nein.«
«Was tut das denn zur Sache?«wollte Sarah wissen.
«Unser blasierter Freund hier meint, man sollte nicht unbesehen urteilen.«
«Man muß sich nicht von einem Hai zerreißen lassen, um zu wissen, daß er scharfe Zähne hat«, erwiderte Sarah.»Man kann ruhig glauben, was andere sehen.«
«Es kommt auf ihren Blickwinkel an.«
«Fakten und Meinungen sind zweierlei«, sagte Jik.»Ein uraltes Toddsches Gesetz.«
Sarah warf mir einen Blick zu.»Hast du Eiswasser im Schädel?«
«Gefühle sind kein Ausgangspunkt für gute Politik. Das war auch immer sein Spruch. Neid ist die Wurzel allen Übels. Was hab ich vergessen?«
«Wer glaubt, daß er die Wahrheit spricht, erzählt die schlimmsten Lügen.«
«Genau«, sagte Jik.»Schade, daß du nicht malen kannst.«
«Herzlichen Dank.«
Wir kamen zu dem Restaurant und speisten so vorzüglich, daß sich die Frage aufdrängte, wieviel Organisation nötig war, um diese wachsende Stadt, die schon dreizehneinhalbtausend Einwohner zählte und auf viele hundert Meilen von nichts als Wüste umgeben war, mit Lebensmitteln, Kleidung und den Dingen des täglichen Gebrauchs zu versorgen.
«Vor hundert Jahren war das hier eine Relaisstation für Überlandtelegramme«, sagte Sarah.»Und heute kommunizieren wir per Satellit.«
«Wenn nur die Kommunikation den technischen Aufwand mal wert wäre!«meinte Jik.»Muß denn jedes >Bis dann, Ethel< durch die Sphären scheppern?«
Wir fragten im Restaurant nach der hiesigen Yarra River Fine Arts und gingen auf dem Rückweg dort vorbei.
Die Galerie befand sich in einer gepflasterten Fußgängerzone, umgeben von kleinen, aber offenbar gutgehenden Boutiquen. In keinem der Läden war Licht. Die Schaufensterauslage der Galerie bestand, soweit im Schein der einzigen Straßenlaterne zu erkennen, aus zwei leuchtend orangefarbenen Wüstenlandschaften.
«Knallig«, sagte Jik, der selbst nicht gerade für zarte Pastelltöne bekannt war.»Da drin hängt bestimmt alles voll mit Bildern a la Albert Namatjira. So was kaufen die Touristen tonnenweise.«
Wir schlenderten in bestem Einvernehmen zum Hotel zurück. Vielleicht hatte die endlose Weite der Wüste ringsum ihr Teil dazu beigetragen, jedenfalls war der Gutenachtkuß, den ich Sarah gab, nicht bloß ein Friedensangebot wie am Morgen, sondern ein Ausdruck von Zuneigung.
Beim Frühstück sagte sie:»Du wirst es nicht glauben — die Hauptstraße hier heißt Todd Street. Und der Fluß heißt Todd River.«
«Das ist Ruhm«, meinte ich bescheiden.
«Und es gibt elf Kunstgalerien.«
«Sie hat den Prospekt des Fremdenverkehrsvereins gelesen«, erklärte Jik.
«Ein chinesisches Schnellrestaurant gibt’s auch.«
Jik verzog das Gesicht.»Und das alles mitten in der Sahara.«
Die Hitze tagsüber hatte es wirklich in sich. Im Radio wurde fröhlich eine Mittagstemperatur von neununddreißig Grad vorausgesagt, einhundertzwei nach der alten Fahrenheitskala. Der Schritt aus dem kühlen Zimmer auf den glühenden Balkon war ein sinnliches Vergnügen, aber die wenigen hundert Meter zur Yarra River Galerie erwiesen sich als erstaunlich anstrengend.
«Man könnte sich wohl daran gewöhnen, wenn man hier wohnt«, sagte Jik.»Gottlob hat Sarah ihren Hut.«
Wir hielten uns möglichst im Schatten überhängender Bäume, während die Einheimischen ohne Kopfbedeckung herumliefen, als ließe das Brenneisen am Himmel sie kalt. Die Yarra River Galerie war ein Ort klimatisierter Stille, und am Eingang standen Stühle für erschöpfte Besucher bereit.
Wie Jik vorausgesagt hatte, waren die Wände tapeziert mit den typischen harten, klaren Aquarellen der Schüler Namatjiras. Sie hatten ihren Reiz, waren aber nicht ganz mein Fall. Mir fehlten da verschwommene Umrisse, unscharfe Ränder, übergreifende Schatten, Fließendes, nur Angedeutetes und Vieldeutiges. Namatjira, der erste und größte unter den australischen Eingeborenenmalern, hatte die Welt mit kristallener Klarheit gesehen. Ich entsann mich, irgendwo gelesen zu haben, daß es mehr als zweitausend Bilder von seiner Hand gab, und natürlich hatte er einen enormen Einfluß auf seinen Geburtsort ausgeübt. Elf Kunstgalerien. Ein Mekka für Maler. Touristen, die tonnenweise Bilder kauften. Eine Plakette an der Wand besagte, daß er am 8. August 1959 im Krankenhaus von Alice Springs gestorben war.
Wir wanderten gut fünf Minuten herum, ohne daß jemand kam. Dann teilte sich der Vorhang aus Plastikstreifen vor einem Durchgang, und der Inhaber der Galerie stand vor uns.
«Haben Sie etwas Interessantes gefunden?«fragte er.
Es gelang ihm, uns mit seinem Tonfall zu verstehen zu geben, daß Touristen ihn schrecklich langweilten und daß wir doch bitte schnell bezahlen und wieder gehen möchten. Er war klein, langhaarig, tranig und blaß, mit großen, dunklen Augen unter schweren, müden Lidern. Ungefähr so alt wie Jik und ich, aber viel weniger robust.
«Haben Sie noch andere Bilder?«fragte ich.
Er warf einen Blick auf unsere Kleidung. Jik und ich trugen noch die Sachen von der Rennbahn — nicht Schlips und Kragen, aber für einen Kunsthändler doch erfolgversprechender als Jeans. Ohne erkennbare Begeisterung hielt er uns den Streifenvorhang auf.