Mit einem wölfischen Grinsen nahm Greene ein Polaroidfoto aus der Tasche und hielt es mir hin. Es war ein Schnappschuß von Jik, Sarah und mir vor den Geschäften im Melbourner Flughafen. Die Frau von der Galerie hatte uns wohl nicht bloß beobachtet, bis wir davonflogen.
«Wir haben in den Hotels gefragt«, sagte Greene.»Es war ein Klacks.«
Da mir dazu nichts weiter einfiel, schwieg ich. Vielleicht kam hinzu, daß mir das Atmen schwerfiel.
Auch von den anderen war keiner allzu gesprächig. Greene ließ den Wagen an und fuhr stadteinwärts — und der Schrank verdrehte mir den Arm mit einem Griff, dem ich mich beugen mußte. Unmöglich, Haltung zu bewahren. Die Stirn wurde mir regelrecht auf die Knie gedrückt. Es war entwürdigend und qualvoll.
«Wir möchten unsere Liste zurück«, sagte Wexford schließlich. Seine Stimme entbehrte jeder Höflichkeit. Das war kein Plauderton. Seine schwarzgallige Rachsucht teilte sich mir unmißverständlich mit.
Herrgott, dachte ich unglücklich, wie ein Volltrottel bin ich da hineingetappt.
«Haben Sie verstanden? Wir wollen unsere Liste und alles, was Sie sonst noch mitgenommen haben.«
Ich antwortete nicht. Zuviel rohe Gewalt.
Dem Lärm nach fuhren wir im Freitagmorgenverkehr durch die belebte Innenstadt, aber sehen konnte ich nichts, da mein Kopf unter Fensterhöhe war.
Nach einiger Zeit bogen wir scharf nach links ab und fuhren dann, wie mir schien, meilenweit bergauf. Der Motor ächzte vor Überlastung, als wir oben ankamen, und die Straße fiel wieder ab.
Kaum ein Wort wurde gesprochen. Der Gedanke, wohin die Reise sehr wahrscheinlich für mich ging, war so unerfreulich, daß ich ihn nach Kräften von mir schob. Ich konnte Wexford zwar seine Liste zurückgeben, aber was dann? Ja, was dann?
Nach einer langen Talfahrt hielt der Wagen kurz und bog dann nach rechts ab. Anstelle der Stadtgeräusche war jetzt Meeresrauschen zu hören. Außerdem kamen uns keine Autos mehr entgegen. Ich gelangte zu dem traurigen Schluß, daß wir die Landstraße verlassen hatten und auf einer wenig befahrenen Nebenstraße unterwegs waren.
Schließlich hielt der Wagen mit einem Ruck an.
Der Schrank ließ mich los. Steif und mit verdrehten Knochen sah ich hoch.
Eine einsamere Stelle hätten sie sich kaum aussuchen können. Die Straße verlief so dicht am Meer, daß sie mehr oder weniger mit der Küstenlinie verschmolz, und die Küste war ein
Dschungel aus spitzen schwarzen Klippen, zwischen denen weiß schäumende Wellen schwappten, kein Vergleich mit den harmlosen Stränden zu Hause.
Rechts ragten steile, zerklüftete Felsen auf. Vor uns endete die Straße in steinbruchähnlichem Gelände. Der Fels war zum Teil abgetragen worden; es gab staubbedeckte Lücken in der Wand, Haufen scharfkantigen Gerölls, sortierter Steine, gesiebten Splitts. Alles hart, roh und vulkanisch schwarz.
Keine Menschen. Keine Maschinen. Alles still.
«Wo ist die Liste?«fragte Wexford.
Greene drehte sich auf dem Fahrersitz um und sah mir ernst ins Gesicht.»Sie sagen uns das schon. Mit oder ohne Prügel. Und wir werden Sie nicht mit Fäusten dazu bringen, sondern mit Steinen.«
«Warum denn nicht mit Fäusten?«begehrte der Schrank auf.
Aber Greene hatte, genau wie ich, zu wenig in den Fäusten, um damit Informationen aus jemandem herauszuprügeln. Mit den Steinen hier sah das gleich anders aus.
«Und wenn ich rede?«sagte ich.
Ein so leichtes Spiel hatten sie nicht erwartet. Ich sah ihnen die beinah schmeichelhafte Überraschung an. Aber ihre Gesichter hatten auch einen scheinheiligen Ausdruck, der überhaupt nichts Gutes verhieß. Regina, dachte ich. Regina mit dem eingeschlagenen Schädel.
Ich betrachtete die Felsen, den Steinbruch, das Meer. Kein leichter Fluchtweg. Und hinter uns die Straße. Lief ich dorthin, würden sie hinter mir herfahren und mich niederwalzen. Wenn ich überhaupt laufen konnte. Da fingen die Schwierigkeiten schon an.
Ich nickte und sah, ohne mich groß verstellen zu müssen, unglücklich drein.
«Gut, ich rede…«, sagte ich.»Draußen.«
Darüber dachten sie einen Moment schweigend nach; aber da es in dem Wagen ohnehin zu eng war, um ordentlich mit Steinen zu hantieren, waren sie nicht ganz abgeneigt.
Greene langte nach dem Handschuhfach auf der Beifahrerseite, öffnete es und zog ein Schießeisen hervor. Ich wußte gerade genug über Handfeuerwaffen, um Revolver und Pistole auseinanderzuhalten, und das hier war ein Trommelrevolver, eine Waffe, deren Hauptvorzug, so hatte ich gelesen, darin besteht, daß sie keine Ladehemmung kennt.
Greene faßte sie eher mit Vorsicht als mit Routine an. Er zeigte sie mir stumm und legte sie wieder ins Handschuhfach, ließ aber die Klappe offen, so daß wir das Drohmittel Nummer eins alle deutlich vor Augen hatten.
«Dann wollen wir mal«, sagte Wexford.
Wir stiegen aus, und ich sah zu, daß ich auf der Seeseite herauskam. Der Wind blies hier an der offenen Küste sehr stark und kalt, auch wenn die Sonne schien. Er zauste das sorgsam gekämmte, lichte Haar auf Wexfords Schädel, und er ließ den Schrank noch dümmer aussehen. Greenes Augen blieben wachsam und so hart wie das Gestein ringsum.
«Also«, sagte Wexford barsch, mit erhobener Stimme, um Wind und Meer zu übertönen,»wo ist die Liste?«
Ich wirbelte herum und rannte, so schnell ich konnte, aufs Meer zu.
Im Laufen griff ich mit der rechten Hand unter mein Hemd und zerrte an der Trageschlinge.
Wexford, Greene und der Schrank schrien wütend auf und setzten mir nach.
Ich zog die beiden Kundenverzeichnisse Übersee aus der Schlinge, drehte mich noch einmal um mich selbst und schleuderte sie mit Schwung und Anlauf, so weit ich konnte, zum Ufer hin.
In der Luft flatterten die Seiten auseinander, doch der ablandige Wind kam wie gerufen und wehte die meisten wie Laub aufs Meer hinaus.
Ich blieb nicht am Ufer stehen. Ich lief geradewegs in das kalte, unwirtliche Schlachtfeld aus gezackten Felsen, grünem Wasser und weiß schäumenden Wellen hinein. Rutschte, fiel, raffte mich auf, stolperte weiter, stellte fest, daß die Strömung viel stärker, der Boden glitschiger, die Felsen schärfer gezähnt waren, als ich erwartet hatte. Kurz, daß ich auf der Flucht vor einer tödlichen Gefahr in die nächste geraten war.
Einen Augenblick lang sah ich mich um.
Wexford war mir ein paar Schritte ins Wasser gefolgt, aber offenbar nur, um ein Blatt aus der Liste an sich zu bringen, das vor den anderen heruntergekommen war. Das Wasser schäumte ihm um die Hosenbeine, während er dastand und auf das nasse Blatt Papier schaute.
Greene war beim Auto und beugte sich hinein — auf der Beifahrerseite.
Der Schrank glotzte mit offenem Mund.
Ich widmete mich wieder dem Problem des Überlebens.
Wie an den meisten Küsten fiel das Ufer hier allmählich ab. Jeder Schritt führte in eine stärkere Strömung, die an mir zerrte und zog und mich umherwarf wie ein Stück Treibholz. In den hüfthohen Wellen fiel es mir schon schwer, auf den Beinen zu bleiben, und wenn ich taumelte, ließen die schwarzen, nadelspitzen Felsen, die dicht gestaffelt über und unter der Wasserfläche lauerten, mich das jedesmal büßen.
Das waren nicht die vom Meer glattgeschliffenen Steine, wie ich sie aus England kannte. Es war vulkanischer Auswurf, der scheuerte wie Bimsstein. Die Finger glitten nicht einfach darüber weg; die Haut blieb kleben und riß auf. Kleidern erging es nicht besser. Nach kaum dreißig Metern lief mir das Blut schon aus einem Dutzend Schürfwunden, und kein
Blutgefäß blutet überzeugender als die kleinen Kapillaren an der Hautoberfläche.
Mein linker Arm war immer noch in der Schlinge gefangen, die — als Vorsichtsmaßnahme, falls noch einmal in mein Zimmer eingebrochen würde wie in Alice — seit dem Tag des Cups das Kundenverzeichnis beherbergt hatte. Jetzt klebten der durchnäßte Verband und mein Hemd wie festgepappt an mir. Der nach dem Bruch geschonte und daher geschwächte Arm wurde damit nicht fertig. Ich wankte auch deswegen herum, weil ich nicht beide Hände frei hatte.