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Ich stehe da, fühle mich gebrochen und klein, zahllose Blicke sind auf mich gerichtet. Sehr lange bleibt es still. Dann pfeift jemand aus der Menge Rues Spotttölpelmelodie. Die vier Töne, mit denen in den Obstplantagen das Ende des Arbeitstages eingeläutet wurde. In der Arena bedeuteten sie Sicherheit. Als die Melodie verklingt, sehe ich, woher der Pfiff kam: von einem hutzligen alten Mann in einem verblichenen roten Hemd und Latzhose. Unsere Blicke treffen sich.

Was dann passiert, ist kein Zufall. Es vollzieht sich so vollkommen synchron, dass es unmöglich ein spontaner Akt sein kann. Jeder Einzelne im Publikum legt die drei mittleren Finger der linken Hand auf die Lippen und streckt sie dann zu mir aus. Das ist unser Zeichen aus Distrikt 12, mein letzter Abschiedsgruß an Rue in der Arena.

Hätte es das Gespräch mit Präsident Snow nicht gegeben, würde diese Geste mich womöglich zu Tränen rühren. Doch da ich seinen Befehl, die Distrikte zu beruhigen, noch in den Ohren habe, erfüllt sie mich mit Furcht. Was wird er von diesem öffentlichen Gruß an das Mädchen halten, das dem Kapitol die Stirn geboten hat?

Auf einmal wird mir klar, was ich da getan habe. Ohne dass es meine Absicht war - ich wollte nur meine Dankbarkeit ausdrücken -, habe ich etwas Gefährliches ausgelöst. Einen Akt des Widerstands in Distrikt 11. Genau das, was ich verhindern soll!

Ich überlege, womit ich das Geschehene zunichtemachen, es widerlegen könnte, doch da wird mit einem leichten Knacken mein Mikrofon abgeschaltet, und der Bürgermeister ergreift das Wort. Peeta und ich nehmen noch einen letzten Applaus in Empfang. Er führt mich zurück zur Tür, er merkt gar nicht, dass etwas nicht stimmt.

Mir ist ganz komisch und ich muss einen Augenblick stehen bleiben. Kleine Lichtfetzen tanzen vor meinen Augen. »Alles in Ordnung?«, fragt Peeta.

»Nur ein bisschen schwindelig. Die Sonne war so grell«, sage ich. Ich sehe seinen Blumenstrauß. »Ich hab meine Blumen vergessen«, murmele ich.

»Ich hol sie«, sagt er.

»Das mach ich schon«, sage ich.

Hätte ich die Blumen nicht vergessen, wäre ich nicht stehen geblieben, dann wären wir jetzt wohlbehalten im Justizgebäude. Stattdessen sehe ich von der schattigen Veranda aus alles mit an.

Zwei Friedenswächter ziehen den alten Mann, der gepfiffen hat, hinauf auf die Treppe. Zwingen ihn vor der Menge auf die Knie. Und jagen ihm eine Kugel in den Kopf.

5

Der Mann ist gerade erst auf dem Boden zusammengesunken, als eine Wand aus weißen Friedenswächtern uns die Sicht versperrt. Mehrere Soldaten haben ihre Maschinengewehre auf uns gerichtet, während sie uns zurück zur Tür schieben.

»Wir gehen ja schon!«, sagt Peeta und schubst den Friedenswächter, der mich bedrängt, weg. »Wir haben verstanden, okay? Komm, Katniss.«

Er legt mir einen Arm um die Schultern und führt mich zurück ins Justizgebäude. Der Friedenswächter folgt uns im Abstand von ein oder zwei Schritten. Kaum sind wir drin, schlägt die Tür zu, und wir hören die Stiefel des Friedenswächters, der zurück zu der Menge geht.

Auf dem Bildschirm, der an der Wand angebracht ist, sieht man nur ein Grieselbild. Darunter warten Haymitch, Effie, Portia und Cinna mit ängstlichen, angespannten Gesichtern.

»Was ist passiert?« Effie kommt schnell auf uns zu. »Nach Katniss’ wundervoller Rede hatten wir keinen Empfang mehr, und dann meinte Haymitch, er hätte einen Schuss gehört. Ich hab gesagt, das kann nicht sein, aber wer weiß? Es gibt ja überall Verrückte!«

»Es ist nichts passiert, Effie. Ein alter Lkw hatte eine Fehlzündung«, sagt Peeta ruhig.

Noch zwei Schüsse. Sie werden durch die Tür kaum gedämpft. Für wen waren die? Threshs Großmutter? Eine von Rues kleinen Schwestern?

»Ihr beide. Kommt mit«, sagt Haymitch. Peeta und ich folgen ihm und lassen die anderen zurück. Jetzt, da wir im Gebäude in Sicherheit sind, interessieren sich die Friedenswächter, die um das Justizgebäude herum aufgestellt sind, nicht mehr sonderlich für unser Treiben. Wir gehen eine prächtige marmorne Wendeltreppe hinauf. Oben liegt ein langer Flur, der mit einem abgetretenen Teppich ausgelegt ist. Eine Flügeltür steht offen und lockt uns in das erste Zimmer. Die Wände sind bestimmt sieben Meter hoch. An der Decke Stuck mit Früchten und Blumen, kleine Putten mit Flügeln schauen aus allen Ecken auf uns herab. Vasen mit Blüten verströmen einen süßlichen Duft, von dem mir die Augen jucken. Unsere Abendkleider hängen an einer Garderobe an der Wand. Der Raum ist für uns vorbereitet, doch wir haben kaum unsere Geschenke abgelegt, als Haymitch uns die Mikrofone von der Brust reißt, sie hinter ein Sofakissen stopft und uns weiterwinkt.

Soweit ich weiß, ist Haymitch erst ein Mal hier gewesen, bei seiner eigenen Siegertour vor mehreren Jahrzehnten. Doch entweder hat er ein bemerkenswertes Gedächtnis oder zuverlässige Instinkte, denn er führt uns durch ein Labyrinth aus gewundenen Treppenhäusern und immer schmaler werdenden Fluren. Manchmal muss er stehen bleiben und eine Tür mit Gewalt öffnen. An dem widerstrebenden Quietschen der Angeln merkt man, dass die Türen lange nicht geöffnet wurden. Schließlich steigen wir eine Leiter zu einer Falltür hoch. Als Haymitch sie zur Seite schiebt, finden wir uns in der Kuppel des Justizgebäudes wieder. Sic ist riesig und vollgestopft mit kaputten Möbeln, Bücherstapeln, Balken und rostigen Waffen. Alles ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt, hier ist seit Jahren nichts passiert. Durch vier schmuddelige quadratische Fenster rund um die Kuppel versucht sich das Licht hindurchzukämpfen. Haymitch schließt die Falltür mit dem Fuß und schaut uns an. »Was ist los?«, fragt er.

Peeta erzählt alles, was auf dem Platz geschehen ist. Der Pfiff, der Gruß, unser Zögern auf der Veranda, der Mord an dem alten Mann. »Was hat das zu bedeuten, Haymitch?«

»Das kannst besser du erzählen«, sagt Haymitch zu mir.

Das sehe ich anders. Ich glaube, es ist viel schlimmer, wenn ich es erzähle. Aber ich erkläre Peeta alles, so ruhig ich kann. Ich erzähle von Präsident Snow, von den Unruhen in den Distrikten. Nicht einmal den Kuss von Gale lasse ich aus. Ich erkläre, dass wir alle in Gefahr sind, dass das ganze Land in Gefahr ist wegen meines Beerentricks. »Auf dieser Tour sollte ich alles wieder geraderücken. Alle, die Zweifel hatten, sollte ich davon überzeugen, dass ich aus Liebe gehandelt habe. Damit sich die Lage wieder beruhigt. Stattdessen hab ich heute erreicht, dass sie drei Menschen getötet haben, und jetzt werden alle auf dem Platz bestraft.« Mir ist so elend, dass ich mich auf ein Sofa setzen muss, auch wenn die Sprungfedern und die Füllung herausgucken.

»Dann hab ich auch alles noch schlimmer gemacht. Indem ich ihnen das Geld geschenkt habe«, sagt Peeta. Plötzlich schlägt er so fest gegen eine Lampe, die wacklig auf einer Kiste steht, dass sie quer durch das Zimmer fliegt. Klirrend fällt sie zu Boden. »Damit muss Schluss sein! Auf der Stelle! Mit diesem … diesem Spiel, das ihr beide da spielt, dass ihr euch Geheimnisse erzählt, aus denen ihr mich raushaltet, als wäre ich zu unwichtig oder zu blöd oder zu schwach, um damit fertigzuwerden.«

»So ist es nicht, Peeta …«, setze ich an.

»Genau so ist es!«, brüllt er. »Ich hab auch Menschen, die mir am Herzen liegen, Katniss! Freunde und Verwandte in Distrikt 12, die genauso tot sein werden wie deine, wenn wir diese Geschichte nicht hinkriegen. Nach allem, was wir in der Arena zusammen durchgemacht haben, hab ich da nicht wenigstens die Wahrheit verdient?«

»Bei dir kann man sich immer darauf verlassen, dass du deine Sache gut machst, Peeta«, sagt Haymitch. »Du weißt genau, wie du dich vor der Kamera darstellen musst. Das wollte ich nicht stören.«

»Also, da hast du mich aber überschätzt. Denn heute hab ich’s ja gründlich vermasselt. Was glaubst du, was jetzt mit Rues und Threshs Familien passiert? Meinst du, sie bekommen ihren Anteil an unserem Preis? Meinst du, ich hab ihnen eine strahlende Zukunft gesichert? Ich glaub, die können froh sein, wenn sie den Tag überleben!« Peeta schleudert noch etwas durchs Zimmer, eine Skulptur. So habe ich ihn noch nie erlebt.