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Ein Scheinwerfer trifft uns und ich setze mein breitestes Lächeln auf.

Wir gehen die Treppe hinunter und begeben uns in den Sog aus immer gleichen Abendessen, Festlichkeiten und Zugfahrten. Jeden Tag dasselbe. Aufwachen. Anziehen. Durch jubelnde Menschenmengen fahren. Eine Rede auf uns anhören. Mit einer Dankesrede antworten, aber nur mit der, die das Kapitol vorgegeben hat, keine persönlichen Worte mehr. Manchmal eine kleine Rundfahrt: ein kurzer Blick auf das Meer in dem einen Distrikt, riesige Wälder in einem anderen, hässliche Fabriken, Weizenfelder, stinkende Raffinerien. Abendgarderobe anziehen. Festessen. Zum Zug.

Während der Feierlichkeiten sind wir immer ernst und respektvoll, aber ständig in Kontakt, mit den Händen oder mit den Armen. Beim Abendessen sind wir halb wahnsinnig vor Liebe zueinander. Wir küssen uns, wir tanzen, lassen uns dabei erwischen, wie wir uns zu zweit davonstehlen wollen. Im Zug leiden wir stumm, während wir uns unsere Wirkung ausmalen.

Selbst ohne persönliche Ansprachen, die das Volk aufrühren könnten - überflüssig zu erwähnen, dass unsere Reden in Distrikt 11 vor der Ausstrahlung herausgeschnitten wurden -, ist zu spüren, dass etwas in der Luft liegt, wie das Brodeln in einem Topf, der jeden Moment überzukochen droht. Nicht überall. Mancherorts macht das Publikum den Eindruck einer müden Viehherde, wie er auch in Distrikt 12 bei den Siegesfeierlichkeiten für gewöhnlich vorherrscht. Doch anderswo - besonders in den Distrikten 8, 4 und 3 - zeigt sich Begeisterung in den Gesichtern der Menschen, als sie uns sehen, und unter der Begeisterung lauert Wut. Wenn sie meinen Namen skandieren, ist das eher ein Ruf nach Rache als ein Jubeln. Wenn die Friedenswächter einschreiten, um die aufmüpfige Menge zu beruhigen, leistet sie eher Widerstand, als dass sie sich zurückzieht. Und ich weiß, dass ich dagegen machtlos bin. Kein Liebestheater, und wäre es noch so glaubwürdig, könnte diese Welle aufhalten. Wenn es ein Akt des zeitweiligen Wahnsinns von mir war, Peeta diese Beeren hinzuhalten, dann sind diese Leute auch zum Wahnsinn bereit.

Cinna muss meine Kleider um die Taille herum enger machen. Das Vorbereitungsteam ist besorgt wegen der Ringe unter meinen Augen. Effie gibt mir Schlaftabletten, doch sie helfen nicht. Jedenfalls nicht gut genug. Ich döse ein, um aus Albträumen aufzuschrecken, die häufiger und schlimmer geworden sind. Einmal hört Peeta, der nachts durch den Zug wandert, mich schreien, während ich mich aus dem Schleier der Medikamente zu kämpfen versuche, die die schlimmen Träume nur verlängern. Er schafft es, mich wach zu rütteln und zu beruhigen. Dann kommt er zu mir ins Bett und hält mich in den Armen, bis ich wieder eingeschlafen bin. Von da an weigere ich mich, die Tabletten zu schlucken. Aber ich lasse ihn jede Nacht in mein Bett. Wir überstehen die Dunkelheit wie in der Arena, aneinandergeschmiegt, immer auf der Hut vor Gefahren, die überall lauern können. Weiter passiert nichts, aber schon bald wird im Zug über unser Arrangement geklatscht.

Als Effie mir davon erzählt, denke ich: Gut so. Vielleicht dringt es ja bis zu Präsident Snow durch. Ich sage ihr, wir würden versuchen, ein wenig diskreter zu sein, aber wir denken gar nicht daran.

Die Auftritte in Distrikt 2 und dann in 1 sind auf ihre ganz eigene Weise grauenhaft. Cato und Clove, die beiden Tribute aus Distrikt 2, hätten es beide nach Hause schaffen können, wenn Peeta und ich nicht gewonnen hätten. Das Mädchen aus Distrikt 1, Glimmer, und den Jungen habe ich persönlich umgebracht. Während ich versuche, seine Familie nicht anzusehen, erfahre ich, dass er Marvel hieß. Wie ist es möglich, dass ich das nicht wusste? Wahrscheinlich habe ich vor den Spielen nicht darauf geachtet und hinterher wollte ich es gar nicht mehr wissen.

Als wir im Kapitol ankommen, sind wir verzweifelt. Wir haben endlose Auftritte vor einem Publikum, das uns anhimmelt. Hier besteht keine Gefahr eines Aufstands, hier bei den Privilegierten, bei denen, deren Namen zur Ernte nie in die Lostrommel wandern, deren Kinder nie für die vermeintlichen Verbrechen sterben, die vor Generationen begangen wurden. Im Kapitol brauchen wir niemanden von unserer Liebe zu überzeugen, wir klammern uns nur an die schwache Hoffnung, ein paar Zweifler in den Distrikten zu erreichen. Was wir auch tun, es kommt uns zu wenig vor, zu spät.

Als wir wieder in unserem alten Quartier im Trainigscenter sind, mache ich den Vorschlag mit dem öffentlichen Heiratsantrag. Peeta ist einverstanden, aber danach verschwindet er für lange Zeit in seinem Zimmer. Haymitch sagt, ich soll ihn in Ruhe lassen.

»Ich dachte, er wollte es sowieso«, sage ich.

»Aber nicht so«, sagt Haymitch. »Er wollte, dass es echt ist.«

Ich gehe in mein Zimmer und lege mich ins Bett, ich versuche, nicht an Gale zu denken, und denke doch an nichts anderes.

An diesem Abend quasseln wir uns auf der Bühne vor dem Trainingscenter durch einen ganzen Fragenkatalog. Caesar Flickerman in seinem glitzernden nachtblauen Anzug, die Haare, Lider und Lippen immer noch taubenblau gefärbt, führt uns fehlerfrei durch das Interview. Als er uns nach der Zukunft fragt, kniet Peeta nieder, schüttet mir sein Herz aus und bittet mich, ihn zu heiraten. Natürlich nehme ich seinen Antrag an. Caesar ist außer sich, das Publikum im Kapitol flippt aus, Aufnahmen von Menschen überall in Panem zeigen ein Volk im Glück.

Präsident Snow höchstpersönlich macht einen Überraschungsbesuch, um uns zu gratulieren. Er drückt Peeta die Hand und klopft ihm anerkennend auf die Schulter. Er umarmt mich, hüllt mich in den Geruch aus Blut und Rosen und drückt mir einen schmatzigen Kuss auf die Wange. Als er sich zurückzieht, die Finger in meinen Arm gräbt und mir ins Gesicht lächelt, wage ich es, die Brauen zu heben. Sie stellen die Frage, die ich nicht über die Lippen bringe. Habe ich es geschafft? Hat es gereicht? Hat es gereicht, dass ich dir alles gegeben habe, dass ich das Spiel weitergespielt und versprochen habe, Peeta zu heiraten ?

Zur Antwort schüttelt er fast unmerklich den Kopf.

6

In dieser winzigen Bewegung erkenne ich das Ende der Hoffnung, die beginnende Zerstörung all dessen, was mir lieb ist auf der Welt. Ich habe keine Ahnung, wie meine Strafe ausfällt, wie weit das Netz ausgeworfen wird, doch am Ende wird höchstwahrscheinlich nichts mehr übrig sein. Also sollte man meinen, dass ich in diesem Moment am Boden zerstört sein müsste. Aber es ist ganz merkwürdig. Ich empfinde vor allem eine Art Erleichterung. Dass ich das Spiel aufgeben kann. Dass die Frage, ob ich dieses Unternehmen gewinnen kann, beantwortet ist, selbst wenn die Antwort ein dröhnendes Nein ist. Und wenn verzweifelte Zeiten verzweifelte Maßnahmen erfordern, dann kann ich mich so verzweifelt aufführen, wie ich will.

Allerdings nicht hier, noch nicht jetzt. Das Wichtigste ist, dass ich zurück in den Distrikt 12 komme, denn zu meinem Plan werden auf jeden Fall meine Mutter und meine Schwester, Gale und seine Familie gehören. Und Peeta, wenn ich ihn überreden kann mitzukommen. Auch Haymitch setze ich auf die Liste. Das sind die Menschen, die ich mitnehmen muss, wenn ich in die Wildnis fliehe. Wie ich sie überzeugen soll, wo wir im tiefsten Winter hinkönnen, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein, das sind unbeantwortete Fragen. Aber wenigstens weiß ich jetzt, was zu tun ist.

Anstatt also weinend zu Boden zu sinken, merke ich, dass ich so aufrecht und selbstbewusst dastehe wie seit Wochen nicht. Mein Lächeln ist zwar etwas idiotisch, aber nicht gezwungen. Und als Präsident Snow das Publikum zum Schweigen bringt und sagt: »Was halten Sie davon, wenn die beiden hier im Kapitol ihre Hochzeit feiern?«, da verwandle ich mich mühelos in das Mädchen, das vor Freude fast ausrastet.

Caesar Flickerman fragt den Präsidenten, ob er schon einen Termin ins Auge gefasst habe.

»Oh, ehe wir uns auf einen Termin festlegen, sollten wir uns lieber mit Katniss’ Mutter einigen«, sagt der Präsident. Das Publikum grölt und der Präsident legt einen Arm um mich. »Wenn alle im Land es ganz fest wollen, dann kommst du vielleicht unter die Haube, bevor du dreißig bist.«