»Peeta, wieso merke ich es nie, wenn du einen Albtraum hast?«, frage ich.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich weine oder um mich schlage oder so. Ich wache einfach auf und bin wie gelähmt vor Panik«, sagt er.
»Dann weck mich doch«, sage ich und denke daran, dass ich ihn in meinen schlechten Nächten oft zwei-oder dreimal wecke. Und dass es dann oft ganz lange dauert, bis ich mich wieder beruhigt habe.
»Das ist nicht nötig. Meine Albträume handeln meistens davon, dass ich dich verliere«, sagt er. »Wenn ich merke, dass du da bist, geht es mir schon wieder gut.«
Uff. Peeta sagt so etwas einfach dahin und es trifft mich wie ein Schlag in den Magen. Er hat mir nur eine ehrliche Antwort auf meine Frage gegeben. Er drängt mich nicht, darauf etwas zu erwidern, irgendeine Liebeserklärung zu machen. Trotzdem fühle ich mich schrecklich, als hätte ich ihn gemein ausgenutzt. Habe ich das? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mir zum ersten Mal unmoralisch vorkommt, ihn hier in meinem Bett zu haben. Was schon paradox ist - schließlich sind wir jetzt offiziell verlobt.
»Wenn wir erst zu Hause sind und ich wieder allein schlafe, wird das schlimmer«, sagt er.
Stimmt ja, wir sind fast zu Hause.
Für Distrikt 12 steht heute ein Abendessen im Haus von Bürgermeister Undersee auf dem Programm und morgen während des Erntefests eine Siegesfeier auf dem Platz. Das Erntefest wird immer am letzten Tag der Tour gefeiert, doch normalerweise bedeutet es ein Essen zu Hause oder mit ein paar Freunden, wenn man es sich leisten kann. Dieses Jahr wird es eine öffentliche Veranstaltung sein, und da das Kapitol alles spendiert, wird sich der ganze Distrikt den Bauch vollschlagen können.
Die Vorbereitung wird zum größten Teil im Haus des Bürgermeisters stattfinden, denn jetzt müssen wir uns für die Auftritte im Freien wieder in Pelze hüllen. Am Bahnhof bleiben wir nur kurz, wir lächeln und winken, während wir uns ins Auto zwängen. Nicht einmal unsere Familien bekommen wir vor dem Abendessen zu Gesicht.
Ich bin froh, dass das Essen beim Bürgermeister stattfindet und nicht im Justizgebäude, wo die Gedenkfeier für meinen Vater abgehalten wurde und wo ich mich nach der Ernte so qualvoll von meiner Familie verabschieden musste. Das Justizgebäude ist zu sehr mit Trauer verbunden.
Das Haus von Bürgermeister Undersee dagegen gefällt mir, besonders seit seine Tochter Madge und ich Freundinnen sind. In gewisser Weise waren wir das schon immer. Offiziell wurden wir es, als sie sich persönlich von mir verabschiedet hat, bevor ich in die Spiele ziehen musste. Da hat sie mir die Spotttölpelbrosche als Glücksbringer gegeben. Als ich wieder zu Hause war, haben wir uns hin und wieder getroffen. Es stellte sich heraus, dass auch Madge viele leere Stunden füllen muss. Am Anfang war es ein bisschen krampfig, weil wir nicht wussten, was wir machen sollten. Andere Mädchen in unserem Alter habe ich über Jungs reden hören oder über andere Mädchen oder über Mode. Madge und ich tratschen nicht gern und Kleider finde ich sterbenslangweilig. Doch nach einigen missglückten Anläufen begriff ich, dass sie für ihr Leben gern in den Wald wollte, also habe ich sie ein paarmal mitgenommen und ihr gezeigt, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht. Sie versucht mir Klavierspielen beizubringen, aber ich höre lieber zu, wenn sie spielt. Manchmal esse ich bei ihr zu Hause oder sie bei mir. Madge gefällt es bei mir besser. Ihre Eltern scheinen nett zu sein, aber ich glaube nicht, dass Madge sie oft zu Gesicht bekommt. Ihr Vater hat als Oberhaupt von Distrikt 12 jede Menge zu tun, und ihre Mutter leidet häufig unter heftigen Kopfschmerzen, die sie tagelang ans Bett fesseln.
»Vielleicht solltet ihr sie mal ins Kapitol bringen«, sagte ich einmal, als es wieder so schlimm war. An dem Tag spielten wir nicht Klavier, denn selbst über zwei Stockwerke hinweg war das Geräusch für ihre Mutter schmerzhaft. »Die würden sie wieder hinkriegen, jede Wette.«
»Ja. Aber ins Kapitol geht man nicht, außer man ist eingeladen«, sagte Madge unglücklich. Auch die Privilegien eines Bürgermeisters sind begrenzt.
Als wir zum Haus des Bürgermeisters kommen, kann ich Madge nur kurz drücken, bevor Effie mich in den zweiten Stock scheucht, damit ich mich umziehe. Nachdem ich zurechtgemacht und in ein langes Silberkleid gehüllt bin, muss ich immer noch eine Stunde bis zum Abendessen totschlagen, also stehle ich mich davon, um Madge zu suchen.
Ihr Zimmer liegt im ersten Stock, wo sich auch mehrere Gästezimmer und das Arbeitszimmer ihres Vaters befinden. Ich strecke den Kopf zur Tür des Arbeitszimmers hinein, um ihrem Vater Guten Tag zu sagen, doch er ist nicht da. Der Fernseher läuft vor sich hin und ich sehe Bilder von Peeta und mir auf dem Fest im Kapitol gestern Abend. Wie wir tanzen, essen und uns küssen. Das läuft in diesem Moment in jedem Haushalt von Panem. Den Zuschauern muss das tragische Liebespaar aus Distrikt 12 schon zum Hals raushängen. So geht es mir jedenfalls.
Ich gehe aus dem Zimmer, als ich plötzlich ein Piepsen höre. Ich drehe mich um und sehe, wie der Bildschirm des Fernsehers schwarz wird. Dann blinken die Worte »AKTUELLER BERICHT AUS DISTRIKT 8« auf. Ich weiß instinktiv, dass das nicht für meine Augen bestimmt ist, sondern nur für die des Bürgermeisters. Ich müsste jetzt gehen. Und zwar schnell. Stattdessen trete ich näher an den Fernseher heran.
Jetzt erscheint eine Sprecherin, die ich noch nie gesehen habe. Sie hat grau meliertes Haar und eine heisere, herrische Stimme. Sie sagt, dass die Zustände sich verschlimmern und dass Alarmstufe 3 ausgerufen wurde. Zusätzliche Truppen würden nach Distrikt 8 geschickt, die gesamte Textilproduktion sei eingestellt worden.
Dann ein Schnitt von der Sprecherin zum zentralen Platz von Distrikt 8. Ich erkenne ihn, weil ich vor einer Woche noch dort war. Von den Dächern wehen immer noch Flaggen mit meinem Gesicht darauf. Darunter spielt sich ein Riesenchaos ab. Schreiende Menschen sind auf dem Platz, die Gesichter hinter Tüchern und selbst gemachten Masken versteckt, sie werfen mit Ziegelsteinen. Häuser stehen in Flammen. Friedenswächter schießen in die Menge, töten wahllos.
Ich habe so etwas noch nie gesehen, aber es kann nur eins bedeuten. Ich sehe das, was Präsident Snow einen Aufstand genannt hat.
7
Ein Lederbeutel mit Essen und eine Thermoskanne mit heißem Tee. Ein Paar mit Fell gefutterte Handschuhe, die Cinna dagelassen hat. Drei Zweige, von den kahlen Bäumen abgebrochen, liegen im Schnee und zeigen in die Richtung, in die ich gehen werde. Diese Sachen hinterlasse ich Gale am ersten Sonntag nach dem Erntefest an unserem Treffpunkt.
Ich bin immer weiter durch die kalten, nebligen Wälder gelaufen, auf einem Weg, den Gale nicht kennen wird, der für meine Füße jedoch leicht zu finden ist. Er führt zum See. Ich vertraue nicht mehr darauf, dass unser üblicher Treffpunkt Abgeschiedenheit bietet, doch genau das und noch mehr brauche ich, um Gale heute mein Herz auszuschütten. Aber wird er überhaupt kommen? Wenn nicht, habe ich keine Wahl, dann muss ich mitten in der Nacht zu ihm gehen. Es gibt etwas, das er wissen muss … Er muss mir helfen, es zu verstehen …
In dem Moment, als ich begriff, was ich bei Bürgermeister Undersee im Fernsehen sah, ging ich zur Tür und durch den Flur. Gerade rechtzeitig, denn kurz darauf kam der Bürgermeister die Treppe hoch. Ich winkte ihm zu.
»Suchst du Madge?«, fragte er freundlich.
»Ja. Ich möchte ihr mein Kleid zeigen«, sagte ich.
»Na, du weißt ja, wo du sie findest.« In dem Augenblick kam wieder das Piepsen aus seinem Büro. Seine Miene wurde ernst. »Entschuldige mich bitte«, sagte er. Er ging in sein Arbeitszimmer und machte die Tür fest hinter sich zu.
Ich wartete im Flur, bis ich mich wieder gefasst hatte. Erinnerte mich daran, dass ich mich normal benehmen musste. Dann ging ich zu Madge. Sie saß in ihrem Zimmer an der Kommode vor einem Spiegel und kämmte sich das blond gewellte Haar. Sie trug dasselbe hübsche weiße Kleid wie am Tag der Ernte. Sie sah mich im Spiegel und lächelte. »Schau dich an. Als kämst du direkt von den Straßen im Kapitol.«